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Bundesverfassungsgericht - Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 68/2008 vom 3. Juli 2008
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Regelungen des Bundeswahlgesetzes, aus denen sich Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt, verfassungswidrig
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Der durch § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5
Bundeswahlgesetz bewirkte Effekt des negativen Stimmgewichts kann dazu
führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für
solche Parteien, die Überhangmandate in einem Land gewinnen, insofern
negativ wirken, als diese Parteien in demselben oder einem anderen Land
Mandate verlieren. Umgekehrt ist es auch möglich, dass die Nichtabgabe
einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist (vgl.
Pressemitteilung Nr. 38 vom 19. März 2008).
Dieser Effekt des negativen Stimmgewichts verletzt die Grundsätze der
Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Die Regelung ist daher, soweit
hierdurch der Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht wird,
verfassungswidrig. Dies entschied der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 3. Juli 2008. Der Wahlfehler
wirkt sich zwar auf die Zusammensetzung des 16. Deutschen Bundestages
aus, führt aber nicht zu dessen Auflösung, da das Interesse am
Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des
Bundeswahlgesetzes zusammengesetzten Volksvertretung überwiegt. Der
Gesetzgeber wurde verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine
verfassungsgemäße Regelung zu treffen.
Im Zusammenhang mit der erhobenen Wahlprüfungsbeschwerde hatte der
Zweite Senat auch über die Frage zu entscheiden, ob die
nichtöffentliche Neuauszählung von Stimmen in einigen Wahlkreisen durch
den Kreiswahlleiter gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl
verstößt. Dies hat der Senat verneint.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
I. Soweit der Beschwerdeführer zu 2. sich gegen die nichtöffentliche
Neuauszählung der Stimmen in einigen Wahlkreisen wendet, ist die
Wahlprüfungsbeschwerde unbegründet. Aus dem Grundsatz der
Öffentlichkeit der Wahl folgt nicht, dass sämtliche Handlungen im
Zusammenhang mit der Ermittlung des Wahlergebnisses unter
Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden müssen. Die
Ordnungsmäßigkeit und Nachvollziehbarkeit der Feststellung des
Wahlergebnisses wird nicht in Frage gestellt, wenn für einzelne
Nachzählungen des Kreiswahlleiters im Rahmen seiner vorbereitenden
Aufgaben die gebotene Öffentlichkeit nur mittelbar dadurch
hergestellt wird, dass das Ergebnis solcher Nachzählungen der
Überprüfung durch den Kreiswahlausschuss unterliegt, der
seinerseits in öffentlicher Sitzung entscheidet. Ein Wahlfehler
kann in diesem Zusammenhang nur festgestellt werden, wenn
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es bei der vorbereitenden
Neuauszählung zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist und der
zuständige Wahlausschuss seinen Aufgaben nicht nachgekommen ist.
Ein derartiger Wahlfehler ist nicht geltend gemacht worden.
II. Der Effekt des negativen Stimmgewichts verletzt den Grundsatz der
Gleichheit der Wahl.
1. Die Erfolgswertgleichheit fordert, dass der Erfolgswert jeder
Stimme, für welche Partei sie auch immer abgegeben wurde,
gleich ist. Dies bedeutet auch, dass sie für die Partei für die
sie abgegeben wurde, positive Wirkung entfalten können muss.
Ein Wahlsystem, das darauf angelegt ist oder doch jedenfalls in
typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen
zu Mandatsverlusten führt oder dass für den Wahlvorschlag einer
Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn
selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr
Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt
den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den
Wahlberechtigten widersinnig erscheinen. Der Effekt des
negativen Stimmgewichts beeinträchtigt aber auch die
Erfolgschancengleichheit der Stimmen. Diese erlaubt zwar, dass
- wie z.B. im Mehrheitswahlrecht - Stimmen nicht gewertet
werden, nicht aber, dass einer Wahlstimme neben der Chance, zum
beabsichtigten Erfolg beizutragen, auch die Gefahr, dem eigenen
Wahlziel zu schaden, innewohnt.
2. Die Beeinträchtigung der Gleichheit der Wahl durch den Effekt
des negativen Stimmgewichts kann nicht durch "zwingenden
Gründe" gerechtfertigt werden.
Die Regelungen, aus denen sich der Effekt des negativen
Stimmgewichts ergibt, dienen Belangen des föderalen Proporzes.
Föderale Belange können zwar grundsätzlich bei der
Ausgestaltung des Wahlrechts berücksichtigt werden. Diese
Aspekte bilden jedoch keinen zwingenden Grund, der geeignet
wäre, den Effekt des negativen Stimmgewichts zu rechtfertigen.
Der Eingriff in die Gleichheit der Wahl durch den Effekt des
negativen Stimmgewichts ist von hoher Intensität. Er führt
nicht nur dazu, dass Wählerstimmen bei der Zuteilung der
Mandate unterschiedlich gewichtet werden, sondern bewirkt, dass
der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt wird. Demgegenüber
kommt dem föderalen Element hier kein hinreichendes Gewicht zu,
zumal der Gesetzgeber die bundesstaatliche Gliederung und den
daraus folgenden Aufbau der Parteien im Wahlrecht in
vielfältiger Weise berücksichtigt hat und die insoweit
getroffenen Regelungen unabhängig sind von den Regelungen, aus
denen sich der Effekt des negativen Stimmgewichts ergibt. Bei
der Gewichtung des Anliegens einer föderalen Zuordnung der
Stimmen ist zudem zu berücksichtigen, dass es bei der Wahl zum
Bundestag um die Wahl des unitarischen Vertretungsorgans des
Bundesvolkes geht. Bei einer solchen Wahl ist der
Bundesgesetzgeber nicht verpflichtet, föderative Gesichtspunkte
zu berücksichtigen.
Der Effekt des negativen Stimmgewichts ist auch keine
zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen
Verhältniswahl. Der Effekt hängt von verschiedenen Faktoren,
vor allem aber von der Konzeption der Verrechnung der Erst- mit
den Zweitstimmenmandaten ab, die das Wahlsystem als solche
nicht determinieren. Von Verfassungs wegen ist der Gesetzgeber
nicht gehindert, eine mit der Personenwahl verbundene
Verhältniswahl ohne den Effekt des negativen Stimmgewichts
anzuordnen.
III. Die Regelung verletzt auch die verfassungsrechtlich verbürgte
Unmittelbarkeit der Wahl. Der Wähler kann schon nicht erkennen, ob
sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei und deren
Wahlbewerber positiv auswirkt, oder ob er durch seine Stimme den
Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht.
IV. § 7 Abs. 3 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG ist daher
verfassungswidrig, soweit er den Effekt des negativen
Stimmgewichts bewirkt.
Der Wahlfehler hat auch Mandatsrelevanz. Es handelt sich bei
diesem Effekt nicht um eine sehr seltene Ausnahme, sondern er
wirkt sich regelmäßig auf das Wahlergebnis aus, wenn bei einer
Wahl zum Deutschen Bundestag Überhangmandate entstehen. Dies gilt
auch für die Wahl zum 16. Deutschen Bundestag, bei der es zu
insgesamt 16 Überhangmandaten kam. Wären zum Beispiel in Hamburg
für die SPD etwa 19.500 Zweitstimmen weniger abgegeben worden, so
hätte diese Partei im Ergebnis einen Sitz mehr im Deutschen
Bundestag beanspruchen können.
Gleichwohl führt der Wahlfehler nicht zur Ungültigerklärung der
Wahl und damit zur Auflösung des 16. Deutschen Bundestags. Der
Fehler beruht auf einer nicht ganz einfach nachzuvollziehenden
Paradoxie des geltenden Bundeswahlgesetzes und betrifft insgesamt
nur wenige Mandate des Deutschen Bundestages. Eine Auflösung des
Deutschen Bundestages, ohne dass zuvor dem Parlament Gelegenheit
gegeben wird, das Bundeswahlgesetz anzupassen, würde darüber
hinaus dazu führen, dass auch der dann zu wählende Bundestag auf
einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage gewählt werden müsste.
Im Gegensatz dazu sind die Folgen einer Entscheidung, die die
bisherige Rechtslage für eine angemessene Übergangszeit billigt,
von Verfassungs wegen hinnehmbar.
V. Dem Gesetzgeber ist eine angemessene Frist einzuräumen, die
Verfassungswidrigkeit des geltenden Wahlsystems zu beheben. Die
Behebung der Verfassungswidrigkeit dieser Normen betrifft nicht
nur die Unterverteilung von Sitzen bei Listenverbindungen einer
Partei, sondern das gesamte Berechnungssystem der Sitzzuteilung im
Deutschen Bundestag. Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der
Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen auf die geltenden
Regelungen der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag haben. Im
Hinblick darauf, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts
untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von
Listenverbindungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung sowohl
beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von
Direktmandaten mit den Zweitstimmenmandaten oder auch bei der
Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzen. Je nach dem, für
welche Alternative sich der Gesetzgeber entscheidet, ergeben sich
Auswirkungen auf das gesamte Wahlsystem. Im Hinblick auf die hohe
Komplexität des Regelungsauftrags und unter Berücksichtigung der
gesetzlichen Fristen zur Vorbereitung einer Bundestagswahl
erscheint es daher unangemessen, dem Gesetzgeber aufzugeben, das
Wahlrecht rechtzeitig vor Ablauf der gegenwärtigen Wahlperiode zu
ändern. Ein derart kurzer Zeitraum birgt die Gefahr, dass die
Alternativen nicht in der notwendigen Weise bedacht und erörtert
werden können. Dem Gesetzgeber wäre damit auch die Möglichkeit
genommen, das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende
Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen
Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage
zu stellen.
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