Die bedürftigkeitsabhängige Ausbildungsförderung nach dem BAföG wird bei
Universitätsstudiengängen für eine Förderungshöchstdauer zur Hälfte als
unverzinsliches Darlehen erbracht. Nach § 18b BAföG kann das Darlehen
bei erfolgreichem Studienabschluss teilweise erlassen werden. Neben
einem leistungsabhängigen Teilerlass kommt ein studiendauerabhängiger
Teilerlass in Betracht. In der hier maßgeblichen Fassung des § 18b Abs.
3 BAföG vom 22. Mai 1990 werden dem Studierenden 5.000 DM des Darlehens
erlassen, wenn er sein Studium vier Monate vor Ablauf der
Förderungshöchstdauer erfolgreich beendet (großer Teilerlass); beträgt
der Zeitraum nur zwei Monate, werden 2.000 DM erlassen (kleiner
Teilerlass).
Das ärztliche Berufsrecht sieht seit den 1970er Jahren eine zur
Erlangung der Approbation als Arzt erforderliche Mindeststudienzeit von
sechs Jahren vor. Die Regelstudienzeit beträgt im Studiengang
Humanmedizin sechs Jahre und drei Monate und setzt sich aus der
Mindeststudienzeit und der für die Ablegung der letzten Prüfung
notwendigen Zeit von maximal drei Monaten zusammen. Die zunächst in der
Förderungshöchstdauerverordnung für die einzelnen Studiengänge geregelte
Förderungshöchstdauer wurde seit Mitte der 1980er Jahre nach und nach
der Regelstudienzeit angeglichen. Während die Förderungshöchstdauer im
Studiengang Humanmedizin seit 1986 dreizehn Semester betragen hatte,
wurde sie für alle Studiengänge in den neuen Bundesländern bereits seit
der Wiedervereinigung zum 1. Januar 1991 nach der Regelstudienzeit
bemessen. Dadurch war es den Studierenden der Humanmedizin in den neuen
Ländern von vornherein unmöglich, einen großen Teilerlass zu erreichen,
da sie eine Mindeststudienzeit von zwölf Semestern zu absolvieren hatten
und deshalb ihr Studium nicht vier Monate vor Ende der
Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten abschließen
konnten. Die Verkürzung der Förderungshöchstdauer galt ebenso für
Studierende der Humanmedizin, die ab dem Sommersemester 1993 ihr Studium
in den alten Ländern aufgenommen hatten. Wer allerdings – wie bei einem
Studienbeginn im Wintersemester 1992/93 oder früher – sein viertes
Fachsemester am 1. Oktober 1994 in den alten Ländern vollendet hatte,
konnte den großen Teilerlass erreichen, weil für ihn nach einer
Übergangsregelung noch die alte Förderungshöchstdauer von dreizehn
Semestern galt.
Der Beschwerdeführer begann im Wintersemester 1991/92 in den neuen
Bundesländern sein Medizinstudium, das er im ersten Monat nach dem Ende
des 12. Semesters erfolgreich abschloss. Während des Studiums erhielt er
Ausbildungsförderung nach dem BAföG. Das Bundesverwaltungsamt legte im
Verfahren zur Festsetzung der Darlehensrückzahlung unter Zugrundelegung
der Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten deren Ende
auf den Monat Dezember 1997 fest und gewährte dem Beschwerdeführer
lediglich einen kleinen Teilerlass, da er das Studium nur zwei Monate
vor dem Ende der Förderungshöchstdauer abgeschlossen habe. Seine im
Wesentlichen gegen die Versagung des großen Teilerlasses gerichteten
Klagen blieben vor den Verwaltungsgerichten ohne Erfolg.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass §
18b Abs. 3 Satz 1 BAföG sowohl in der hier maßgeblichen Fassung als auch
in den nachfolgenden Fassungen mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art.
3 Abs. 1 GG) unvereinbar ist, soweit es danach Studierenden wegen
Rechtsvorschriften zur Mindeststudienzeit einerseits und zur
Förderungshöchstdauer andererseits objektiv unmöglich ist, einen großen
Teilerlass zu erhalten. In diesem Umfang dürfen die Gerichte und
Verwaltungsbehörden die Vorschrift nicht mehr anwenden. Der Gesetzgeber
hat bis zum 31. Dezember 2011 für alle betroffenen Studierenden, deren
Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren über die Gewährung eines großen
Teilerlasses noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen sind,
eine gleichheitsgerechte Neuregelung zu treffen. Des Weiteren hat der
Senat die zur Versagung des großen Teilerlasses ergangenen
Entscheidungen der Verwaltungsgerichte aufgehoben, weil sie - wie die
Entscheidung des Bundesverwaltungsamtes - den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, und die Sache zur erneuten
Entscheidung an das erstinstanzliche Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Der Beschwerdeführer wird durch § 18b Abs. 3 Satz 1 BAföG in
Verbindung mit den einschlägigen Vorschriften zur Förderungshöchstdauer
einerseits und zur Mindeststudienzeit andererseits sowie durch die
daraus folgende Versagung eines großen Teilerlasses in seinem Grundrecht
auf Gleichbehandlung verletzt, weil es ihm als Studierendem der
Humanmedizin in den neuen Ländern von vornherein objektiv unmöglich war,
in den Genuss eines großen Teilerlasses zu kommen.
Zum einen wird er gegenüber den Studierenden der Humanmedizin ungleich
behandelt, die im Wintersemester 1992/1993 oder früher ihr Studium in
den alten Ländern aufgenommen und im Sommersemester 1994 ihr viertes
Fachsemester vollendet haben, weil für diese eine Förderungshöchstdauer
von dreizehn Semestern galt und sie damit bei einem Abschluss des
Studiums vor Ablauf des zweiten Monats nach Ende der Mindeststudienzeit
einen großen Teilerlass erhalten konnten. Zum anderen liegt eine
Ungleichbehandlung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge vor, in
denen entweder gar keine Mindeststudienzeit gilt oder Mindeststudienzeit
und Förderungshöchstdauer so bemessen sind, dass ein Abschluss des
Studiums vier Monate vor dem Ende der Förderungshöchstdauer möglich
bleibt.
Diese Ungleichbehandlungen sind nicht gerechtfertigt. Zwar steht dem
Gesetzgeber bei der Gewährung von Leistungen ein Spielraum zu;
insbesondere zur Bewältigung der deutschen Einheit darf er auch mit
Härten verbundene Regelungen treffen. Es ist jedoch kein Grund dafür
ersichtlich, den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern die
Begünstigung eines großen Teilerlasses von vornherein zu versagen,
während sie Medizinstudenten in den alten Ländern nach der
Wiedervereinigung noch übergangsweise offen stand. Der Zweck des § 18b
Abs. 3 Satz 1 BAföG, Anreize für einen möglichst raschen
Studienabschluss zu setzen, besteht gegenüber Studierenden der
Humanmedizin in den neuen Ländern ebenso wie in den alten Ländern.
Auch die Befugnis des Gesetzgebers, bei der Ordnung von
Massenerscheinungen typisierende und pauschalierende Regelungen zu
treffen, vermag die oben genannten Ungleichbehandlungen nicht zu
rechtfertigen. Die unzureichende Berücksichtigung gesetzlicher
Mindeststudienzeiten und ihres Verhältnisses zur Förderungshöchstdauer
kann gesamte Studiengänge und damit eine große Anzahl von Studierenden
von der Möglichkeit eines großen Teilerlasses ausschließen. Dieser
Ausschluss ist ohne unzumutbaren Aufwand vermeidbar, indem die Regeln
über Teilerlass, Förderungshöchstdauer und Mindeststudienzeit
aufeinander abgestimmt werden. Er ist daher nicht aus
verwaltungspraktischen oder sonstigen Gründen sachlich geboten, sondern
hat seine Ursache allein in einem strukturellen Fehler der
Gesetzeskonzeption.
Die Benachteiligung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge ist
nicht durch andere Sachgründe gerechtfertigt. Dass sich der Studiengang
Humanmedizin durch die höchste Förderungshöchstdauer von allen
universitären Studiengängen auszeichnet, ist dem Umfang des Studiums und
der gesetzlich bestimmten und auch europarechtlich vorgegebenen
Mindeststudienzeit geschuldet. Ein tragfähiger Sachgrund, Studierenden
einen großen Teilerlass deshalb zu versagen, weil sie sich für ein
umfangreiches Studium entschieden haben, existiert nicht. Vielmehr
besteht aus Sicht der Geförderten bei langer Studien und Förderungsdauer
sogar ein größeres Bedürfnis für einen großen Teilerlass, da die
zurückzuzahlende Darlehenssumme in der Regel höher ausfällt als bei
kürzeren Studiengängen.
2. Die Verletzung des Grundrechts auf Gleichbehandlung betrifft nicht
nur Studierende der Humanmedizin in den neuen Ländern, sondern liegt
auch bei Studierenden der Humanmedizin in den alten Ländern ab
Sommersemester 1993 gegenüber solchen Studiengängen vor, die die
Voraussetzungen des großen Teilerlasses nach Maßgabe der für sie
geltenden Mindeststudienzeiten und Förderungshöchstdauer grundsätzlich
erfüllen können. Ein entsprechender Gleichheitsverstoß betrifft ferner
alle anderen Studiengänge, in denen Mindeststudienzeiten vorgeschrieben
sind und eine Förderungshöchstdauer gilt, die um weniger als vier Monate
über der Mindeststudienzeit liegt. Die vom Gesetzgeber zu treffende
Neuregelung muss rückwirkend unabhängig vom Zeitpunkt des
Studienabschlusses alle noch nicht bestands oder rechtskräftig
abgeschlossenen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren erfassen, die die
Gewährung eines großen Teilerlasses zum Gegen-stand haben und einen
Studiengang betreffen, in dem wegen divergierender Rechtsvorschriften zu
Mindeststudienzeiten und zur Förderungshöchstdauer die Voraussetzungen
des § 18b Abs. 3 Satz 1 BAföG von vornherein nicht erfüllbar waren.
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