Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer wurde im Jahr
1994 wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit
mit sexuellem Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
fünf Jahren verurteilt. Zugleich wurde gegen ihn die Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die zum Zeitpunkt seiner
Verurteilung geltende zehnjährige Höchstfrist für die Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung wurde zum 31. Januar 1998 aufgehoben. Der
Wegfall der Befristung betraf auch alle zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
der Neureglung bereits angeordneten und noch nicht erledigten Fälle der
Sicherungsverwahrung (sog. „Altfälle“). Im April 2009 befand sich der
Beschwerdeführer seit zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung. Auf der
Grundlage zweier Sachverständigengutachten, die eine bei dem
Beschwerdeführer diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung und
ein sehr hohes Rückfallrisiko bescheinigten, ordnete das Landgericht im
Juni 2010 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung an.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 alle
Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung wegen
Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem
Freiheitsgrundrecht erklärt. Darüber hinaus hat es die Vorschriften zur
nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die
zehnjährige Höchstfrist hinaus auch für unvereinbar mit dem
rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot erklärt. Nach den getroffenen
Übergangsregelungen darf in diesen „Altfällen“ die Fortdauer der
Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen
in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und
dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Absatz 1 Nr. 1 des
Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) leidet (vgl. Pressemitteilung Nr.
31/2011 vom 4. Mai 2011).
Im Juni 2011 hob das Oberlandesgericht auf der Grundlage weiterer
Sachverständigengutachten den angefochtenen Beschluss des Landgerichts
auf und ordnete die Entlassung des Beschwerdeführers aus der
Sicherungsverwahrung zum 19. Dezember 2011 an. Ausweislich der aktuellen
Gutachten leide der Beschwerdeführer nicht an einer psychischen Störung
i. S. d. § 1 Absatz 1 Nr. 1 ThUG. Diese liege erst vor, wenn die
psychische Störung das Gewicht einer schweren seelischen Abartigkeit im
Sinne der gesetzlichen Regel zur Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB)
erreiche. Das sei hier nicht der Fall. Die Freilassung des
Beschwerdeführers werde auf den späteren Zeitpunkt bestimmt, um die
Durchführung der erforderlichen Entlassungsvorbereitungen zu
ermöglichen.
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts
aufgehoben, weil sie dem Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht
und dem ihm zukommenden Vertrauensschutz nicht hinreichend Rechnung
tragen, und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht
zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Der Beschluss des Landgerichts über die Fortdauer der
Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers genügt nicht den besonderen
Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht für die Übergangszeit
bis zu einer gesetzlichen Neuregelung an eine Fortdaueranordnung in den
sog. “Altfällen“ stellt.
2. Auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den
Beschwerdeführer in seinen o. g. verfassungsmäßigen Rechten. Nachdem das
Gericht die besonderen Voraussetzungen für eine Fortdauer der
Sicherungsverwahrung auf der Grundlage der Weitergeltungsanordnung des
Bundesverfassungsgerichts verneint hat, hätte es die unverzügliche
Entlassung des Beschwerdeführers anordnen müssen, statt diese um mehr
als sechs Monate hinauszuschieben.
Nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 4.
Mai 2011 getroffenen Übergangsregelungen haben die
Vollstreckungsgerichte in den sog. „Altfällen“ aufgrund der besonderen
Schwere des Grundrechtseingriffs das Vorliegen der Voraussetzungen der
Fortdauer der Sicherungsverwahrung unverzüglich zu prüfen und - falls
diese nicht gegeben sind - die Freilassung der betroffenen
Sicherungsverwahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 anzuordnen. Diese
allein dem Prüfungsaufwand geschuldete Fristsetzung bedeutet nicht, dass
der Entlassungstermin innerhalb des verbleibenden Zeitraums bis zum Ende
des Jahres 2011 nach Ermessen zu bestimmen wäre. Halten die zuständigen
Gerichte die Unterbringungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Entscheidung
nicht für gegeben, haben sie die unverzügliche Entlassung der
Betroffenen anzuordnen. In den sog. „Altfällen“, in denen die
Unterbringung auch gegen das Vertrauensschutzgebot verstößt, kommt eine
zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung zum Zweck der
Durchführung von Entlassungsvorbereitungen daher nicht in Betracht. Dem
Resozialisierungsanspruch der Betroffenen ist in diesen Fällen, soweit
im Einzelfall möglich und notwendig, durch eine dem Fehlen ausreichender
Entlassungsvorbereitungen angepasste engmaschige Begleitung und
geeignete Weisungen im Rahmen der kraft Gesetzes eintretenden
Führungsaufsicht Rechnung zu tragen.
3. Im Hinblick auf die vom Landgericht erneut vorzunehmende Prüfung
weist die Kammer zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der
„psychischen Störung“ i. S. d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG allerdings auf
Folgendes hin:
Der Gesetzgeber hat mit der Unterbringung nach dem
Therapieunterbringungsgesetz ersichtlich eine neue eigenständige
Kategorie der Unterbringung psychisch gestörter, für die Allgemeinheit
gefährlicher Personen geschaffen, die das Verständnis der psychischen
Störung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgreift und
unterhalb der Schwelle der Vorschriften zur Schuldfähigkeit anzusiedeln
ist. Dementsprechend setzt der Begriff der psychischen Störung im Sinne
von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG gerade nicht voraus, dass der Grad einer
Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird.
Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des
Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle
unter diesen Begriff zu fassen; gleiches gilt auch für die dissoziale
Persönlichkeitsstörung. Entscheidend ist hier der Grad der objektiven
Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht,
der anhand des gesamten - auch des strafrechtlich relevanten -
Verhaltens des Betroffenen zu bestimmen ist.
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