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Bundesverfassungsgericht - Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 65/2011 vom 26. Oktober 2011
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Zur Zulässigkeit der konkreten Normenkontrolle betreffend ein Gesetz, das Recht der Europäischen Union umsetzt
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Das Investitionszulagengesetz (InvZulG) regelt die Zahlung einer
staatlichen Subvention (Investitionszulage) für bestimmte betriebliche
Investitionen in Berlin und den neuen Bundesländern. Im Mai 1998
entschied die Europäische Kommission, dass nationale Beihilferegelungen
mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar seien, die dem von der Kommission
zuvor bestimmten Gemeinschaftsrahmen und den zugleich festgelegten
zweckdienlichen Maßnahmen zur Verarbeitung und Vermarktung
landwirtschaftlicher Erzeugnisse zuwiderliefen. Danach sind bestimmte
Investitionen in landwirtschaftliche Betriebe, unter anderem in
Müllereibetriebe, von der Förderung ausgeschlossen. Deutschland wurde in
der am 2. Juli 1998 zugestellten Entscheidung aufgegeben, seine
Beihilferegelungen binnen zwei Monaten entsprechend zu ändern oder
aufzuheben. Die Vorgabe wurde durch die am 24. Dezember 1998 in Kraft
getretene Neuregelung in § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG umgesetzt. Nicht
begünstigt waren danach bestimmte Wirtschaftsgüter im Bereich der
Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die nach
dem 2. September 1998 angeschafft oder hergestellt worden waren. Die
Klägerin des Ausgangsverfahrens unterhält einen Mühlenbetrieb in den
neuen Bundesländern. Auf der Grundlage der Neuregelung versagte ihr das
Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage für Investitionen in
Höhe von 3,9 Millionen DM mit der Begründung, diese seien erst nach dem
2. September 1998 durchgeführt worden. Mit ihrer hiergegen erhobenen
Klage macht die Klägerin im Wesentlichen einen Verstoß gegen das
verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot geltend. Die betreffenden
Investitionsentscheidungen seien bereits vor dem 3. September 1998 und
damit auch vor Verkündung der Neuregelung getroffen worden.
Das Finanzgericht hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Prüfung
vorgelegt, ob die Regelung in § 2 Satz 2 Nr. 4 InvZulG insoweit mit dem
rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot vereinbar ist, als sie auch
Investitionen umfasse, bezüglich derer der Investor eine bindende
Investitionsentscheidung schon vor dem 28. September 1998 - dem Tag der
Veröffentlichung des Schreibens, mit dem die Bundesregierung die
Änderung des Investitionszulagengesetzes angekündigt hatte - getroffen
hat. Ein Investor genieße von dem Zeitpunkt seiner bindenden
Dispositionsentscheidung an Vertrauensschutz gegenüber Gesetzen, die die
steuerliche Förderung der Investition nachträglich einschränkten oder
aufhöben; dieses schutzwürdige Vertrauen sei erst mit der
Veröffentlichung des Schreibens der Bundesregierung entfallen. Die mit
der Neuregelung verbundene Rückwirkung sei verfassungsrechtlich nicht
gerechtfertigt und auch nach der Entscheidung der Kommission nicht
geboten. Danach bestehe eine Verpflichtung nur mit Wirkung für die
Zukunft, nicht aber zur Versagung von Beihilfen für Investitionen, die
in Gestalt bindender Investitionsentscheidungen bereits begonnen worden
seien. Da der Rechtsverstoß im nationalen Recht begründet sei, komme
eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nicht in Betracht.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die
Vorlage unzulässig ist, weil das vorlegende Finanzgericht nicht
ausreichend geklärt hat, ob die von ihm als verfassungswidrig beurteilte
Gesetzesvorschrift auf einer den deutschen Gesetzgeber bindenden Vorgabe
des europäischen Gemeinschaftsrechts beruht oder ihm ein
Gestaltungsspielraums verblieben ist. Damit ist die
Entscheidungserheblichkeit der Vorlage nicht hinreichend dargelegt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Ein Gesetz, das Unionsrecht umsetzt, kann nur dann dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über seine
Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden, wenn es der Prüfung durch das
Bundesverfassungsgericht unterliegt. Solange die Europäische Union einen
wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union
generell gewährleistet, der dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes im
Wesentlichen gleich zu achten ist, übt das Bundesverfassungsgericht
seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von Unionsrecht in
Deutschland , das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher
Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, jedoch nicht mehr aus
und überprüft dieses Recht mithin nicht am Maßstab der Grundrechte. Auch
eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine Richtlinie oder einen
Beschluss in deutsches Recht umsetzt, wird nicht an den Grundrechten des
Grundgesetzes gemessen, wenn das Unionsrecht dem deutschen Gesetzgeber
keinen Umsetzungsspielraum belässt, sondern zwingende Vorgaben macht. In
diesem Fall ist die Vorlage eines Unionsrecht umsetzenden Gesetzes an
das Bundesverfassungsgericht unzulässig, weil die Frage seiner
Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht entscheidungserheblich ist.
Ein Gericht hat daher vor einer Vorlage des Gesetzes an das
Bundesverfassungsgericht zu klären, ob dem deutschen Gesetzgeber bei der
Umsetzung des Unionsrechts ein Spielraum verblieben ist. Hierfür muss
es, wenn Unklarheit über die Bedeutung des Unionsrechts besteht, ein
Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Gerichtshof einleiten,
unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist. Zwar besteht
nach Unionsrecht eine Pflicht zur Vorlage zum Europäischen Gerichtshof
ausschließlich für letztinstanzliche Gerichte, deren Entscheidungen
selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des nationalen Rechts angefochten
werden können. Wenn jedoch unklar ist, ob und inwieweit das Unionsrecht
den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt, sind auch
Instanzgerichte vor einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur
Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Europäischen
Gerichtshof verpflichtet. Denn hier geht es um die Bestimmung der
Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts und damit um eine für die
Zulässigkeit der Normenkontrolle zwingend zu klärende Vorfrage.
Des Weiteren hat das vorlegende Gericht sich in seiner Vorlagebegründung
mit der Frage eines dem nationalen Gesetzgeber belassenen
Umsetzungsspielraums auseinanderzusetzen und hinreichend deutlich die
Gründe für die Entscheidungserheblichkeit seiner Vorlage darzulegen.
2. Diesen Anforderungen genügt die Vorlage des Finanzgerichts nicht. Es
hat sich schon nicht mit der Möglichkeit einer eingeschränkten
verfassungsrechtlichen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht
befasst. Zudem fehlt es an hinreichenden Ausführungen zum Umfang der
Bindungswirkung der Kommissionsentscheidung. Die Feststellung, die
Kommission habe nur eine Regelung für die Zukunft getroffen, zwingt
nicht zu dem Schluss, dass nach Ablauf der zweimonatigen Umsetzungsfrist
eine Gewährung von Investitionszulagen zulässig bleiben sollte, wenn
eine bindende Investitionsentscheidung bereits vor Fristablauf getroffen
worden war. Nach ihrem Wortlaut gab die Entscheidung der Kommission
vielmehr vor, dass nach Fristablauf keine Investitionszulage mehr
gewährt werden durfte, und zwar unabhängig davon, ob ein Investor
bereits eine bindende Investitionsentscheidung getroffen hatte oder
nicht. In Anbetracht dessen hat das Finanzgericht die
Entscheidungserheblichkeit der Vorlage schon nicht ausreichend dargetan.
Zudem hätte es die hier maßgebliche Auslegungsfrage für das Vorliegen
eines nationalen Umsetzungsspielraums dem Europäischen Gerichtshof im
Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen müssen, weil diese
sich nicht zweifelsfrei im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichts beantworten lässt.
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