Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am
Dienstag, 10. Januar 2012, 10.00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Dienstsitz „Waldstadt“,
Rintheimer Querallee 11, 76131 Karlsruhe
über zwei Verfassungsbeschwerden, die die Folgen des Widerrufs der
Börsenzulassung von Aktien zum Handel im sogenannten regulierten Markt
auf Antrag der Gesellschaft selbst betreffen (freiwilliges Delisting).
Die Verfassungsbeschwerden werfen die Fragen auf,
ob und wie weit die Zulassung zum Börsenhandel im regulierten Markt
wegen der daran anknüpfenden besonderen rechtlichen Regeln und der
daraus möglicherweise folgenden gesteigerten Verkehrsfähigkeit der
Aktie den Schutz des Eigentumsgrundrechts genießt, und
ob der Bundesgerichtshof mit seiner „Macrotron-Entscheidung“ aus dem
Jahr 2002 (BGHZ 153, 47) noch die Grenzen richterlicher
Rechtsfortbildung wahrt, in der er für den „Verlust" der mit der
Börsennotierung verbundenen gesteigerten Verkehrsfähigkeit auf das
Eigentumsgrundrecht gestützt ein Pflichtangebot an die
Minderheitsaktionäre zur Übernahme ihrer Aktien oder zu einer
Ausgleichszahlung und dessen Überprüfbarkeit in einem Spruchverfahren
fordert.
Zum Sachverhalt:
Im fachgerichtlichen Ausgangsverfahren zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR
1569/08 wollte eine Minderheitsaktionärin gegen eine
Kommanditgesellschaft auf Aktien sowie deren Mehrheitsaktionärin im
Spruchverfahren eine Barabfindung als Ausgleich für den Widerruf der
Börsenzulassung durchsetzen. Das Delisting wurde allerdings nur
teilweise vollzogen, nämlich als sogenanntes „Downgrading“: Die Aktien
wurden nach dem Rückzug vom regulierten Markt noch in einem
standardisierten Segment des qualifizierten Freiverkehrs gehandelt, dem
Segment „m:access“ der Börse München. Die Beschwerdeführerin beantragte,
im Spruchverfahren eine angemessene Barabfindung festzusetzen. Die
Fachgerichte hielten das Spruchverfahren für unzulässig, weil die
Verkehrsfähigkeit der Aktien aufgrund des im Freiverkehr weiterhin
funktionierenden Marktes nicht beeinträchtigt und eine Anwendung der
„Macrotron-Regeln“ deshalb nicht geboten sei.
Die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 3142/07 betrifft dieselbe Problematik
aus der Sicht des Hauptaktionärs: Mit dem von der Aktiengesellschaft
beantragten Widerruf der Börsenzulassung unterbreitete die
Beschwerdeführerin als deren Großaktionärin den übrigen Aktionären der
Aktiengesellschaft – nach ihrer Auffassung freiwillig – ein Angebot zum
Kauf ihrer Aktien. Einige Aktionäre verlangten in einem Spruchverfahren
eine höhere Abfindung. Hier bejahten die Fachgerichte die Zulässigkeit
dieses Verfahrens. Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde der
Hauptaktionärin. Diese meint, der Widerruf der Börsenzulassung löse
keine Pflicht zu einem Kaufangebot aus. Sie werde in verfassungswidriger
Weise einem gesetzlich gar nicht vorgesehenen Spruchverfahren
ausgesetzt. Die Fachgerichte hätten bei der von ihnen zugrunde gelegten
Gesamtanalogie zu anderen minderheitsaktionärsschützenden Regelungen
ihre Befugnis zur Rechtsfortbildung überschritten.
Zum rechtlichen Hintergrund der Verfahren:
Über die Zulassung von Aktien zum Handel im regulierten Markt und deren
Widerruf entscheidet die Geschäftsführung der Börse (§ 32 Abs. 1 BörsG).
Das Aktienrecht nimmt diese Zulassung auf. § 3 Abs. 2 Aktiengesetz
lautet:
Börsennotiert im Sinne dieses Gesetzes sind Gesellschaften, deren
Aktien zu einem Markt zugelassen sind, der von staatlich
anerkannten Stellen geregelt und überwacht wird, regelmäßig
stattfindet und für das Publikum mittelbar oder unmittelbar
zugänglich ist.
Als „Delisting“ bezeichnet man den Rückzug einer bisher börsennotierten
Aktiengesellschaft aus dem regulierten Markt.
Ein freiwilliges Delisting kann als vollständiger Rückzug durch den
Fortfall der Notierung an sämtlichen Börsen oder als Teilrückzug durch
den Wegfall der Notierung an einer oder einigen Börsen oder verbunden
mit einem Wechsel in ein besonderes, im wesentlichen von den Börsen
selbst reguliertes Segment des sogenannten qualifizierten Freiverkehrs
erfolgen. Dabei handelt es sich um eine nur privatrechtlich organisierte
Handelsplattform, für die keine staatlich geregelte Zulassungspflicht
der gehandelten Papiere besteht (vgl. § 48 BörsG). Die gesetzlichen
Anforderungen an die Publizitäts- und Informationspflichten von
Aktiengesellschaften sind dort geringer. Sie können sich aber freiwillig
privaten Standards unterwerfen. Diese können der staatlichen Regulierung
nahe kommen. Beispiele hierfür sind die im Jahr 2005 eröffneten
Teilbereiche „Entry Standard des Freiverkehrs (Open Market)“ der
Frankfurter Wertpapierbörse und - so im Verfahren 1 BvR 1569/08 –
„m:access“ der Börse München. Die Börsenkurse der Aktien, die in diesen
Segmenten des Freiverkehrs gehandelt werden, werden veröffentlicht. Die
Aktien können unter Angabe der Wertpapierkennziffer vom Anleger über
seine Depotbank gehandelt werden. Die Börse bedarf zur Einrichtung eines
qualifizierten Freiverkehrs einer Erlaubnis der staatlichen
Börsenaufsicht. Der Handel selbst folgt indessen privatrechtlichen
Grundsätzen.
Für die rechtliche Bewertung des Delisting sind zwei im Grundsatz
eigenständige Regelungskreise in den Blick zu nehmen: Der
kapitalmarktrechtliche (Börsenrecht) auf der einen Seite und der
gesellschaftsrechtliche (Aktienrecht, Umwandlungsrecht, usw.) auf der
anderen Seite. Das Kapitalmarktrecht regelt im Börsengesetz unter
anderem die Stellung der Börse, die Zulassung der Aktien zum regulierten
Markt und deren Widerruf. Es setzt darüber hinaus auch einen Rahmen für
den Freiverkehr an den Börsen. Die Börse regelt diesen Freiverkehr
selbst weiter in Richtlinien und Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Im
Gesellschaftsrecht, insbesondere im Aktiengesetz ist überdies eine Fülle
von (gesellschaftsrechtlichen) Sonderbestimmungen für die (im
regulierten Markt) börsennotierten Aktiengesellschaften enthalten.
Hierzu zählen u. a. die Pflicht zur Veröffentlichung von Finanzberichten
nach den International Financial Reporting Standards und die
Verpflichtung, jährlich anzugeben, inwieweit sie sich an die
Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex halten. Bei
börsennotierten Aktiengesellschaften verjährt die Vorstandshaftung erst
nach 10 statt nach 5 Jahren. Nur für börsennotierte Aktiengesellschaften
schreibt der Gesetzgeber vor, dass die Vergütung des Vorstands auf eine
nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten ist und der
Aufsichtsrat häufiger zusammenzutreten hat. Die Pflicht zur Mitteilung
einer Änderung der Beteiligungsverhältnisse, die zu einer Änderung der
Aktionärsstruktur führt (in Prozent der Beteiligung), die Pflicht zur
Veröffentlichung von Insiderinformationen und von Geschäften von
Führungskräften mit eigenen Aktien gehören ebenfalls zu diesen
besonderen Regelungen für börsennotierte Aktiengesellschaften.
Das Gesellschaftsrecht enthält weiter zahlreiche Vorschriften für den
Schutz von Minderheitsaktionären. Diese sind der Anknüpfungspunkt für
eine Gesamtanalogie in der fachgerichtlichen Rechtsprechung zum
gerichtlich überprüfbaren Pflichtangebot beim freiwilligen Delisting.
Beim Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages muss
Aktionären der von einem anderen Unternehmen beherrschten
Aktiengesellschaft entweder jährlich ein Ausgleichsbetrag gezahlt oder
ihnen eine Abfindung angeboten werden. Bei einer Eingliederung in eine
andere Aktiengesellschaft können ausgeschiedene Aktionäre eine
angemessene Abfindung beanspruchen. Beim zwangsweisen Ausschluss von
Minderheitsaktionären im Wege eines Squeeze-out (der den Squeeze-out
betreibende Hauptaktionär muss über 95 % der Aktien verfügen) muss der
Hauptaktionär den ausgeschlossenen Aktionären eine Barabfindung
gewähren. Weitere Pflichtangebote sind im Umwandlungsgesetz vorgesehen.
So hat im Rahmen eines Verschmelzungsvertrages der übernehmende
Rechtsträger jedem widersprechenden Anteilsinhaber den Erwerb seiner
Anteile gegen eine angemessene Barabfindung anzubieten. Gleiches gilt
für den formwechselnden Rechtsträger. Der Minderheitsaktionär kann in
diesen Fällen die Höhe der Abfindung in einem sogenannten
Spruchverfahren gerichtlich überprüfen lassen.
Für den Widerruf der Börsenzulassung zum regulierten Markt (freiwilliges
Delisting) hat der Gesetzgeber den Schutz der Minderheitsaktionäre
allein kapitalmarktrechtlich geregelt. § 39 Abs. 2 BörsG bestimmt, dass
die Zulassungsstelle die Zulassung zur amtlichen Notierung auf Antrag
der Gesellschaft widerrufen kann, wenn „der Schutz der Anleger einem
Widerruf nicht entgegensteht“, wobei Näheres über den Widerruf in der
jeweiligen Börsenordnung zu bestimmen ist.
Früher sahen sämtliche deutschen Börsenordnungen vor, dass dem Schutz
der Anleger bei einem Delisting dann genügt sei, wenn den Inhabern der
Wertpapiere ein Kaufangebot unterbreitet werde. Diese Regelungen wurden
überwiegend aufgegeben.
Der Bundesgerichtshof verlangt seit seiner „Macrotron“-Entscheidung aus
dem Jahr 2002 (BGHZ 153, 47) für den Rückzug von der Börse einen über
den kapitalmarktrechtlichen Schutz hinaus gehenden
gesellschaftsrechtlich verankerten Schutz der Minderheitsaktionäre: Denn
das Delisting nehme dem Minderheitsaktionär den Markt, der es ihm
ermögliche, seine Aktie jederzeit zu veräußern. Dieser „Wegfall des
Marktes“ könne auch nicht durch die Einbeziehung der Aktien in den
Freihandel ausgeglichen werden. Nach Bekanntwerden des Delisting trete
erfahrungsgemäß ein Kursverfall der Aktien ein. Die besondere
Verkehrsfähigkeit der börsennotierten Aktie unterfalle deshalb dem
Schutz von Art. 14 GG. Das Delisting sei nur zulässig, wenn die
Hauptversammlung es mit mindestens einfacher Mehrheit beschließe, der
Mehrheitsaktionär oder die Aktiengesellschaft den Minderheitsaktionären
ein Angebot unterbreite, ihre Aktien zu kaufen und das Angebot
gerichtlich im Spruchverfahren auf seine Angemessenheit überprüfbar sei.
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