Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die
verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Rechtsschutz gegen
versammlungsrechtliche Maßnahmen bekräftigt. Bereits im Eilverfahren
müssen die Verwaltungsgerichte eine vollständige - und nicht nur
summarische - Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht
durchführen. Sofern dies im Einzelfall aus Zeitgründen nicht möglich
ist, haben sie jedenfalls eine sorgfältige und hinreichend begründete
Folgenabwägung vorzunehmen. Die mit der Verfassungsbeschwerde
angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hielten diesen
Maßstäben nicht stand.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Die Beschwerdeführer meldeten für den 16. Oktober 2010 von 12.00 bis
20.00 Uhr eine Versammlung in der Innenstadt von L. an. Diese sollte aus
drei Aufzügen und einer Abschlusskundgebung mit geschätzt 600
Teilnehmern bestehen. Das Motto „Recht auf Zukunft“ bezog sich auf eine
frühere Versammlung, die einer der Beschwerdeführer - eine
Unterorganisation der NPD - am 17. Oktober 2009 in L. veranstaltet
hatte. Damals war es im Zusammenhang mit einer Blockade durch
Gegendemonstranten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen.
Letztlich hatte die Polizei die Versammlung aufgelöst.
Die Polizeidirektion L. bekundete in einer Gefährdungsanalyse vom 4.
Oktober 2010, dass der Schutz von zwei Aufzügen mit den verfügbaren
Einsatzkräften gewährleistet werden könne. Einer der Beschwerdeführer
teilte am 11. Oktober 2010 mit, dass nur noch ein Aufzug stattfinden
solle. Am 12. Oktober 2010 ergänzte die Polizeidirektion L. ihre
Gefahrprognose insofern, dass lediglich eine maximal vierstündige
stationäre Kundgebung durchführbar sei. Nach den Erfahrungen vom 17.
Oktober 2009 sei mit einer höheren als der angemeldeten Teilnehmerzahl
zu rechnen. Zudem seien jeweils ca. 10 bis 20 % der Teilnehmer der
angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstrationen als gewaltbereit
einzustufen. Nur 29 der für erforderlich gehaltenen 44
Polizeihundertschaften stünden zur Verfügung.
Am 13. Oktober 2010 untersagte die Stadt L. die Durchführung der
Versammlung als Aufzug, verfügte die Durchführung als stationäre
Kundgebung in der Zeit von 13.00 bis 17.00 Uhr in einem Bereich am
Hauptbahnhof und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Auflage an.
2. Am gleichen Tag legten die Beschwerdeführer hiergegen Widerspruch ein
und wandten sich zugleich im Eilrechtsschutzverfahren an das
Verwaltungsgericht. Dieses lehnte die Eilanträge mit Beschluss vom 15.
Oktober 2010 ab. Das Oberverwaltungsgericht wies die hiergegen
gerichtete Beschwerde am gleichen Tage zurück. Vor dem
Bundesverfassungsgericht blieb ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung - aufgrund der besonderen Voraussetzungen für die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes - erfolglos. Jedoch hat die Kammer auf die
Möglichkeit hingewiesen, die aufgeworfenen Fragen in einem
verfassungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren zu klären (Beschluss vom
16. Oktober 2010 - 1 BvQ 39/10 -, juris).
3. Die daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde ist zulässig und
begründet. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts und des
Oberverwaltungsgerichts verletzen die Beschwerdeführer in ihrem
Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 (Versammlungsfreiheit) in Verbindung mit
Art. 19 Abs. 4 GG (Recht auf effektiven Rechtsschutz).
a) Beschränkungen der Versammlungsfreiheit bedürfen gemäß Art. 8 Abs. 2
GG zu ihrer Rechtfertigung einer gesetzlichen Grundlage. Nach § 15 des
Versammlungsgesetzes kann die zuständige Behörde die Versammlung von
bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses
der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Als
Grundlage der Gefahrprognose sind konkrete und nachvollziehbare
tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich. Hierfür liegt die Darlegungs-
und Beweislast grundsätzlich bei der Behörde. Maßnahmen sind primär
gegen die Störer zu richten. Gegen eine friedliche Versammlung selbst
kann nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen
Notstandes eingeschritten werden.
b) Die Verwaltungsgerichte müssen zum Schutz von Versammlungen, die auf
einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine
intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug
der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der
Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich ist als
Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der
Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch
zu prüfen. Sofern dies nicht möglich ist, haben die Fachgerichte
jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese
hinreichend substantiiert zu begründen.
4. Diese Maßstäbe haben das Verwaltungsgericht und das
Oberverwaltungsgericht nicht hinreichend berücksichtigt.
a) Das Verwaltungsgericht legt bereits nicht hinreichend deutlich dar,
ob seiner Auffassung nach auch von der Versammlung selbst eine Gefahr
für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder ob diese Gefahr
ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den
hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Auch die
tatsächlichen Feststellungen im Hinblick auf einen etwaigen
polizeilichen Notstand entsprechen nicht den Anforderungen an die
intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung, die bereits im Eilverfahren geboten
ist. Die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse, die
sich nicht ohne weiteres erschließt, hätte das Verwaltungsgericht
veranlassen müssen, substantiierter zu prüfen und eine genauere
Begründung zu verlangen. Es hätte auch dezidierterer Feststellungen
bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche
Sicherheit und aufgrund welcher konkreter vorrangig zu schützender
sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum
Schutz der angemeldeten Versammlung und der Rechtsgüter Dritter zur
Verfügung gestanden hätten.
b) Das Oberverwaltungsgericht hat zwar deutliche Bedenken gegen das
Vorliegen eines polizeilichen Notstandes und gegen die kurzfristige
Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse geäußert. Auch erscheint
es nachvollziehbar, dass dem Oberverwaltungsgericht die hier
grundsätzlich gebotene Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage
in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr möglich war.
Allerdings hätte es dem Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation,
um der Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit zumindest
in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders sorgfältige
Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner
Entscheidung hinreichend offenzulegen.
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