In einem heute veröffentlichten Beschluss hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts seine Rechtsprechung zur nachträglichen
Sicherungsverwahrung bekräftigt. Bis zum Inkrafttreten der
erforderlichen gesetzlichen Neuregelung, längstens jedoch bis 31. Mai
2013, darf diese nur noch ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen
in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und
dieser an einer psychischen Störung leidet. Die genannten Grundsätze
gelten auch dann, wenn der Betroffene zuvor in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht war. In diesen Fällen wird nicht lediglich
eine unbefristete Maßregel durch eine andere ersetzt, sondern es handelt
sich bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung um einen neuen,
eigenständigen Grundrechtseingriff. Erfolgt dieser auf der Grundlage
eines Gesetzes, das im Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstaten
noch nicht in Kraft getreten war, kommt den betroffenen
Vertrauensschutzbelangen ein besonders hohes Gewicht zu.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. § 66b des Strafgesetzbuches (StGB) regelt die nachträgliche
Sicherungsverwahrung in Fällen, in denen während der Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus festgestellt wird, dass der die
Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand nicht (mehr)
vorliegt. Mit Urteil vom 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht
diese Vorschrift wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar
mit dem Grundgesetz erklärt (vgl. BVerfGE 128, 326 <329 ff.>). Zugleich
hat das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung dieser Norm bis zu
einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens jedoch bis zum 31.
Mai 2013, angeordnet. Sie darf jedoch während der Fortgeltung nur nach
Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden.
2. Mit den Verfassungsbeschwerden wenden sich die Beschwerdeführer gegen
die Fortdauer der Sicherungsverwahrung, die nach Erledigung ihrer
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nachträglich
angeordnet worden ist.
a) Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 2122/11 befand sich nach
vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe wegen mehrerer sexuell
motivierter Gewaltverbrechen im Maßregelvollzug. Die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts erklärte die Unterbringung im
April 2007 für erledigt, weil - anders als noch im Ausgangsurteil
angenommen - kein Zustand vorgelegen habe, der die Schuldfähigkeit des
Beschwerdeführers ausgeschlossen oder vermindert habe. Im März 2008
ordnete das Landgericht seine nachträgliche Sicherungsverwahrung an, da
er hochgefährlich sei. Einen Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung
der Sicherungsverwahrung zur Bewährung lehnte die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts mit angegriffenem Beschluss
vom 15. Juli 2011 ab. Mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung werde
lediglich eine unbefristete freiheitsentziehende Maßregel durch eine
andere ersetzt; der Beschwerdeführer werde daher im Ergebnis nicht
schlechter gestellt. Die sofortige Beschwerde verwarf das
Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 22. August
2011.
b) Der Beschwerdeführer des Verfahrens 2 BvR 2705/11 war ebenfalls wegen
mehrerer sexuell motivierter Gewaltverbrechen in einer psychiatrischen
Klinik untergebracht. Nachdem ihm durch zwei Gutachten bescheinigt
worden war, dass keine Persönlichkeitsstörung vorliege, erklärte die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts seine Unterbringung im Juli
2007 für erledigt. Zugleich ordnete sie seine einstweilige Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung an. Das Oberlandesgericht hob diese
einstweilige Unterbringungsanordnung jedoch auf, woraufhin sich der
Beschwerdeführer für zwei Wochen auf freiem Fuß befand. Im April 2008
ordnete das Landgericht die nachträgliche Sicherungsverwahrung an. Den
Antrag des Beschwerdeführers, die Sicherungsverwahrung zur Bewährung
auszusetzen, wies die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts mit
Beschluss vom 30. August 2011 zurück; die sofortige Beschwerde verwarf
das Oberlandesgericht am 15. November 2011. Die Begründungen dieser
beiden angegriffenen Beschlüsse entsprechen denen des Verfahrens 2 BvR
2122/11.
c) Eine vorherige Verfassungsbeschwerde beider Beschwerdeführer gegen
die ursprüngliche Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung war
nicht zur Entscheidung angenommen worden (BVerfGK 16, 98). Beide
Beschwerdeführer erhoben hieraufhin Individualbeschwerde zum
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der ihnen wegen Verstoßes
gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK eine Entschädigung zugesprochen hat (Urteil vom
7. Juni 2012, Beschwerde-Nr. 65210/09 bzw. 61827/09).
3. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die angegriffenen
Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf
Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2) in Verbindung mit dem
Vertrauensschutzgebot (Art. 20 Abs. 3 GG).
a) Die durch § 66b StGB ermöglichte nachträgliche Sicherungsverwahrung
greift in grundrechtlich geschütztes Vertrauen ein. Dies gilt
insbesondere, wenn die Betroffenen wegen ihrer Anlasstaten bereits vor
Inkrafttreten der Vorschrift verurteilt wurden (sogenannte Altfälle). Da
die Sicherungsverwahrung zu einer unbefristeten Freiheitsentziehung
führt, kommt den betroffenen Vertrauensschutzbelangen ein besonders
hohes Gewicht zu.
b) Demgegenüber kann nicht darauf verwiesen werden, dass bei der
nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung lediglich eine
„Überweisung“ von einer zeitlich nicht begrenzten freiheitsentziehenden
Maßnahme in eine andere stattfinde und daher Vertrauensschutzbelange nur
nachrangig berührt seien. Die Sicherungsverwahrung im Anschluss an die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beinhaltet nicht eine
bloße Fortführung der vorherigen Maßregel auf veränderter
Rechtsgrundlage, sondern einen neuen, eigenständigen
Grundrechtseingriff. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die
Sicherungsverwahrung nur angeordnet werden kann, wenn zuvor die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt
worden ist. Die Eigenständigkeit spiegelt sich zudem in der
Ausgestaltung des Anordnungsverfahrens wider. Während die
Erledigungserklärung von der Strafvollstreckungskammer am Ort der
Unterbringung ausgesprochen wird, wird die Sicherungsverwahrung durch
das Tatgericht angeordnet. Hinzu kommt, dass beide Maßregeln sich auch
qualitativ voneinander unterscheiden.
c) Das Gewicht der betroffenen Vertrauensschutzbelange wird durch die
Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstärkt. Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit seinen Urteilen vom
7. Juni 2012 festgestellt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung
der Beschwerdeführer gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK verstößt. Aus der weiteren
Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich darüber hinaus, dass eine
konventionsrechtliche Rechtfertigung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung in Altfällen nur unter den Voraussetzungen von Art.
5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK (d. h. bei Vorliegen einer psychischen
Störung) in Betracht kommt.
Damit bestätigen die Wertungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention, dass sich das Gewicht des Vertrauens der
Betroffenen auf ein Unterbleiben der Sicherungsverwahrung in Altfällen
einem absoluten Vertrauensschutz annähert. Eine nachträgliche
Sicherungsverwahrung darf daher in diesen Fällen nur noch ausgesprochen
werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder
Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem
Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer
psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des
Therapieunterbringungsgesetzes leidet.
d) Das Oberlandesgericht wird deshalb nach Maßgabe der Übergangsregelung
aus dem Urteil vom 4. Mai 2011 erneut über die Fortdauer der
nachträglichen Sicherungsverwahrung zu befinden haben.
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