Die gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafprozess sind trotz
eines erheblichen Vollzugsdefizits derzeit noch nicht verfassungswidrig.
Der Gesetzgeber muss jedoch die Schutzmechanismen, die der Einhaltung
der verfassungsrechtlichen Anforderungen dienen, fortwährend auf ihre
Wirksamkeit überprüfen und gegebenenfalls nachbessern. Unzulässig sind
sogenannte informelle Absprachen, die außerhalb der gesetzlichen
Regelungen erfolgen. Dies hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts in einem heute verkündeten Urteil entschieden.
Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht die von den Beschwerdeführern
angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen wegen
Verfassungsverstößen im jeweiligen Verfahren aufgehoben und die Sache
zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ihre strafgerichtliche
Verurteilung im Anschluss an eine Verständigung zwischen Gericht und
Verfahrensbeteiligten. In den Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR 2883/10
richten sich die Verfassungsbeschwerden zudem gegen die Vorschrift des §
257c Strafprozessordnung (StPO), die durch das Gesetz zur Regelung der
Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (im Folgenden:
Verständigungsgesetz) eingefügt worden ist.
2. Die Verfassungsbeschwerden sind begründet, soweit sie sich gegen die
angegriffenen Entscheidungen richten; im Übrigen haben sie keinen
Erfolg.
a) Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz, der Verfassungsrang
hat. Dieser ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit
des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG) sowie im
Rechtsstaatsprinzip verankert (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Staat ist von
Verfassungs wegen gehalten, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu
gewährleisten. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung
des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip
nicht verwirklichen lässt.
Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet dem Beschuldigten,
prozessuale Rechte wahrzunehmen und Übergriffe - insbesondere
staatlicher Stellen - angemessen abwehren zu können. Die Ausgestaltung
dieser Verfahrensrechte ist in erster Linie dem Gesetzgeber aufgegeben.
Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor,
wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, dass
rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder
rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde. Im Rahmen dieser
Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen
Strafrechtspflege einschließlich des Beschleunigungsgrundsatzes in den
Blick zu nehmen.
Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit und die Unschuldsvermutung
sind im Rechtsstaatsprinzip verankert und haben Verfassungsrang.
Insbesondere muss der Beschuldigte frei von Zwang eigenverantwortlich
entscheiden können, ob und gegebenenfalls inwieweit er im Strafverfahren
mitwirkt.
b) Ausgehend davon tragen Verständigungen zwar das Risiko in sich, dass
die verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in vollem Umfang beachtet
werden. Gleichwohl ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht
schlechthin verwehrt, sie zur Verfahrensvereinfachung zuzulassen. Um den
verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht zu werden, hat es der
Gesetzgeber für notwendig erachtet, klare gesetzliche Vorgaben für das
in der Praxis bedeutsame, aber stets umstritten gebliebene Institut der
Verständigung zu schaffen. Mit dem Verständigungsgesetz hat er kein
neues, „konsensuales“ Verfahrensmodell eingeführt, sondern die
Verständigung in das geltende Strafprozessrechtssystem integriert.
aa) Das Verständigungsgesetz verweist ausdrücklich darauf, dass die
Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären,
unberührt bleibt. Damit hat der Gesetzgeber klargestellt, dass eine
Verständigung als solche niemals alleinige Urteilsgrundlage sein kann,
sondern weiterhin ausschließlich die Überzeugung des Gerichts. Zudem ist
das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu
überprüfen. Soweit der praktische Anwendungsbereich von Verständigungen
dadurch beschränkt wird, ist dies die zwangsläufige Konsequenz der
Einfügung in das System des geltenden Strafprozessrechts. Auch die
rechtliche Würdigung ist der Disposition im Rahmen einer Verständigung
entzogen; dies gilt auch für eine Strafrahmenverschiebung bei besonders
schweren oder minder schweren Fällen.
bb) Das Verständigungsgesetz regelt die Zulässigkeit einer Verständigung
im Strafverfahren abschließend. Es untersagt damit die beschönigend als
„informell“ bezeichneten Vorgehensweisen bei einer Verständigung. Zudem
beschränkt es die Verständigung auf den Gegenstand der Hauptverhandlung.
Sogenannte „Gesamtlösungen“, bei denen die Staatsanwaltschaft auch die
Einstellung anderer Ermittlungsverfahren zusagt, sind daher unzulässig.
cc) Transparenz und Dokumentation von Verständigungen stellen einen
Schwerpunkt des Regelungskonzepts dar. Dies soll eine effektive
Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und
Rechtsmittelgericht gewährleisten. Insbesondere müssen die mit einer
Verständigung verbundenen Vorgänge umfassend in die - regelmäßig
öffentliche - Hauptverhandlung einbezogen werden. Dies bekräftigt
zugleich, dass die richterliche Überzeugung sich auch nach einer
Verständigung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ergeben muss.
Ein Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten führt
grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen
Verständigung. Hält sich das Gericht an eine solche gesetzeswidrige
Verständigung, wird ein Beruhen des Urteils auf diesem Gesetzesverstoß
regelmäßig nicht auszuschließen sein.
Eine herausgehobene Bedeutung kommt der Kontrolle durch die
Staatsanwaltschaft zu. Sie ist nicht nur gehalten, ihre Zustimmung zu
einer gesetzeswidrigen Verständigung zu versagen, sondern hat auch
Rechtsmittel gegen Urteile einzulegen, die auf einer solchen
Verständigung beruhen. Weisungsgebundenheit und Berichtspflichten
ermöglichen es zudem, diese Kontrollfunktion der Staatsanwaltschaft nach
einheitlichen Standards auszuüben.
dd) Schließlich sieht das Verständigungsgesetz vor, dass der Angeklagte
darüber zu belehren ist, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen
Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen
kann. Diese Belehrung soll den Angeklagten in die Lage versetzen, eine
autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu
treffen. Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird im Rahmen
der revisionsgerichtlichen Prüfung regelmäßig davon auszugehen sein,
dass das Geständnis und damit auch das Urteil hierauf beruhen.
c) Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der
verfassungsrechtlichen Vorgaben in ausreichender Weise. Der in
erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt
derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.
aa) Verfassungswidrig wäre das gesetzliche Regelungskonzept nur, wenn
die vorgesehenen Schutzmechanismen in einer Weise lückenhaft oder sonst
unzureichend wären, die eine gegen das Grundgesetz verstoßende
„informelle“ Absprachepraxis fördert, das Vollzugsdefizit also durch die
Struktur der Norm determiniert wäre.
bb) Weder das Ergebnis der empirischen Erhebung noch die in den
Verfassungsbeschwerdeverfahren abgegebenen Stellungnahmen zwingen zu der
Annahme, dass es strukturelle Mängel des gesetzlichen Regelungskonzepts
sind, die zu dem bisherigen Vollzugsdefizit geführt haben. Die Gründe
hierfür sind vielschichtig. Als Hauptgrund wird in der empirischen
Untersuchung eine „fehlende Praxistauglichkeit“ der Vorschriften
genannt. Dies spricht für ein bisher nur unzureichend ausgeprägtes
Bewusstsein, dass es Verständigungen ohne die Einhaltung der
Anforderungen des Verständigungsgesetzes nicht geben darf.
d) Der Gesetzgeber muss die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge
behalten. Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem
Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und das
Verständigungsgesetz nicht ausreichen, um das festgestellte
Vollzugsdefizit zu beseitigen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung
durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken. Unterbliebe dies, träte ein
verfassungswidriger Zustand ein.
3. Die mit den Verfassungsbeschwerden angefochtenen fachgerichtlichen
Entscheidungen sind mit den Vorgaben des Grundgesetzes für eine
Verständigung im Strafprozess nicht zu vereinbaren.
a) Die von den Beschwerdeführern der Verfahren 2 BvR 2628/10 und 2 BvR
2883/10 angegriffenen Entscheidungen verletzen sie in ihrem Recht auf
ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und verstoßen gegen die
Selbstbelastungsfreiheit. Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit
dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte
vor ihrem Zustandekommen über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung
für das Gericht belehrt worden ist. Fließt das unter Verstoß gegen die
Belehrungspflicht abgegebene Geständnis in das Urteil ein, beruht dieses
Urteil auf der Grundrechtsverletzung, es sei denn eine Ursächlichkeit
des Belehrungsfehlers für das Geständnis kann ausgeschlossen werden,
weil der Angeklagte dieses auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben
hätte. Hierzu müssen vom Revisionsgericht konkrete Feststellungen
getroffen werden.
b) Die im Verfahren 2 BvR 2155/11 angegriffene landgerichtliche
Entscheidung verstößt schon deshalb gegen den verfassungsrechtlichen
Schuldgrundsatz, weil das Landgericht den Beschwerdeführer im
Wesentlichen auf Grundlage eines ungeprüften Formalgeständnisses
verurteilt hat. Darüber hinaus beruht das Urteil auf einer
Verständigung, die unzulässig über den Schuldspruch disponiert hat. In
diesem Fall ist auch die Grenze zu einer verfassungswidrigen
Beeinträchtigung der Selbstbelastungsfreiheit deutlich überschritten.
Das Landgericht hat eine - schon für sich gesehen übermäßige - Differenz
zwischen den beiden Strafgrenzen noch zusätzlich mit der Zusage einer
Strafaussetzung zur Bewährung verbunden, die überhaupt nur aufgrund der
Strafrahmenverschiebung zu einem minder schweren Fall möglich war.
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