Abgaben zum Vorteilsausgleich dürfen nicht zeitlich unbegrenzt nach der
Erlangung des Vorteils festgesetzt werden. Dem Gesetzgeber obliegt es
vielmehr, für einen Ausgleich zwischen dem Interesse der Allgemeinheit
an der Beitragserhebung und dem Interesse des Beitragsschuldners an
Klarheit über seine Inanspruchnahme zu sorgen. Dies hat der Erste Senat
des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss
entschieden. Zugleich hat der Senat eine Vorschrift des Bayerischen
Kommunalabgabengesetzes für unvereinbar mit dem verfassungsrechtlichen
Grundsatz der Rechtssicherheit erklärt, da diese das Interesse des
Beitragsschuldners an einer zeitlichen Grenze für die Abgabenerhebung
völlig unberücksichtigt lässt. Der Landesgesetzgeber ist gehalten, bis
1. April 2014 eine verfassungsgemäße Neureglung zu schaffen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Nach dem bayerischen Landesrecht beträgt die Frist, in der kommunale
Beiträge festgesetzt werden dürfen, vier Jahre. Im Regelfall beginnt
diese Frist mit dem Ablauf des Jahres, in dem die Beitragspflicht
entstanden ist. Das Bayerische Kommunalabgabengesetz verweist in diesem
Zusammenhang weitgehend auf die Abgabenordnung des Bundes. Artikel 13
Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des
Bayerischen Kommunalabgabengesetzes trifft jedoch eine Sonderregelung
für den Fall einer ungültigen Beitragssatzung: In diesem Fall beginnt
die Frist erst mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die gültige Satzung
bekanntgemacht worden ist.
2. Der Beschwerdeführer war von 1992 bis 1996 Eigentümer eines an die
öffentliche Entwässerungseinrichtung angeschlossenen bebauten
Grundstücks. Bei einer Ortsbesichtigung im Jahr 1992 stellte die
Gemeinde fest, dass das Dachgeschoss des Gebäudes ausgebaut worden war.
Für die ausgebaute Dachgeschossfläche zog sie den Beschwerdeführer
allerdings erst mit Nacherhebungsbescheid vom 5. April 2004 zu einem
Kanalherstellungsbeitrag heran. Grundlage hierfür war eine Beitrags- und
Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 5. Mai 2000, die die
Gemeinde zur Heilung einer als nichtig beurteilten Vorgängersatzung
rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft gesetzt hatte. Während des
Widerspruchsverfahrens erwies sich auch diese Satzung als unwirksam. Die
Gemeinde erließ daraufhin eine neue Satzung und setzte sie rückwirkend
zum 1. April 1995 in Kraft. Die neue Satzung wurde am 26. April 2005 im
Amtsblatt der Gemeinde bekanntgemacht.
3. Die Klage des Beschwerdeführers gegen den Bescheid und den
Widerspruchsbescheid der Gemeinde blieb sowohl vor dem
Verwaltungsgericht als auch vor dem Verwaltungsgerichtshof erfolglos.
4. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde ist zulässig und
begründet, soweit sie auf eine Verletzung des verfassungsrechtlichen
Grundsatzes der Rechtssicherheit gestützt wird.
a) Die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts muss - sofern kein
eigenständiger neuer Gehörsverstoß durch das Rechtsmittelgericht geltend
gemacht wird - nicht mit der Anhörungsrüge angegriffen werden, um dem
Erfordernis der Rechtswegerschöpfung zu genügen.
b) Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Zulässigkeit
rückwirkender Gesetze sind im vorliegenden Fall nicht verletzt. Art. 13
Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des
Bayerischen Kommunalabgabengesetzes selbst entfaltet dem
Beschwerdeführer gegenüber keine Rückwirkung. Die Norm trat zum 1.
Januar 1993 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt lag noch keine wirksam
heilende Satzung im Sinne der Vorschrift vor. Eine solche wurde auch
später nicht zum oder vor dem 1. Januar 1993 in Kraft gesetzt.
Unabhängig von der Neuregelung hatte die Verjährungsfrist daher noch
nicht zu laufen begonnen. c) Die genannte Vorschrift verstößt jedoch
gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gebot der Rechtssicherheit
als wesentlichem Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten
Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausprägung als Gebot der
Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit.
aa) Rechtssicherheit und Vertrauensschutz gewährleisten im
Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der
Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung
über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug. Der Grundsatz des
Vertrauensschutzes besagt, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auf die
Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen.
Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet darüber hinaus aber unter
bestimmten Umständen Rechtssicherheit auch dann, wenn keine Regelungen
bestehen, die Anlass zu spezifischem Vertrauen geben, oder wenn Umstände
einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen. Es schützt in seiner
Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und vorhersehbarkeit davor,
dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene
Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden
können.
bb) Soweit Beitragspflichten zum Vorteilsausgleich an zurückliegende
Tatbestände anknüpfen, ist es verfassungsrechtlich geboten, diese
Inanspruchnahme zeitlich zu begrenzen.
Die Verjährung von Geldleistungsansprüchen der öffentlichen Hand soll
einen gerechten Ausgleich zwischen dem berechtigten Anliegen der
Allgemeinheit an der umfassenden und vollständigen Realisierung dieser
Ansprüche auf der einen Seite und dem schutzwürdigen Interesse der
Bürgerinnen und Bürger auf der anderen Seite bewirken, irgendwann nicht
mehr mit einer Inanspruchnahme rechnen zu müssen und entsprechend
disponieren zu können. Dabei ist es den Verjährungsregelungen eigen,
dass sie ohne individuell nachweisbares oder typischerweise vermutetes,
insbesondere ohne betätigtes Vertrauen greifen. Sie schöpfen ihre
Berechtigung und ihre Notwendigkeit vielmehr aus dem Grundsatz der
Rechtssicherheit.
Für die Erhebung von Beiträgen zum Vorteilsausgleich ist der Gesetzgeber
verpflichtet, Verjährungsregelungen zu treffen oder jedenfalls im
Ergebnis sicherzustellen, dass diese nicht unbegrenzt nach Erlangung des
Vorteils festgesetzt werden können. Die Legitimation von Beiträgen liegt
in der Abgeltung eines Vorteils, der den Betreffenden zu einem
bestimmten Zeitpunkt zugekommen ist. Je weiter dieser Zeitpunkt bei der
Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr verflüchtigt sich die
Legitimation zur Erhebung solcher Beiträge. Der Grundsatz der
Rechtssicherheit gebietet, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit
Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die
erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss.
cc) In Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich
2 des Bayerischen Kommunalabgabengesetzes hat es der Gesetzgeber
verfehlt, den erforderlichen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit auf der
einen Seite und Rechtsrichtigkeit und Fiskalinteresse auf der anderen
Seite zu schaffen. Indem er den Verjährungsbeginn ohne zeitliche
Obergrenze nach hinten verschiebt, lässt er die berechtigte Erwartung
des Bürgers darauf, eine gewisse Zeit nach Entstehen der Vorteilslage
nicht mehr mit der Festsetzung des Beitrags rechnen zu müssen, gänzlich
unberücksichtigt.
5. Da dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, den
verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, kommt vorliegend nur eine
Unvereinbarkeitserklärung in Betracht. Sie führt dazu, dass die
verfassungswidrige Vorschrift von Gerichten und Verwaltungsbehörden
nicht mehr angewendet werden darf. Laufende Gerichts- und
Verwaltungsverfahren, in denen diese Vorschrift entscheidungserheblich
ist, bleiben bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens aber bis
zum 1. April 2014, ausgesetzt oder sind auszusetzen. Trifft der
Gesetzgeber bis zum 1. April 2014 keine Neuregelung, tritt Nichtigkeit
der verfassungswidrigen Vorschrift ein.
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