Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat im Verfahren der
abstrakten Normenkontrolle über einen Antrag der Bayerischen
Staatsregierung und der Hessischen Landesregierung zu Vorschriften des
Luftsicherheitsgesetzes entschieden. Der Antrag betraf zum einen die
Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes zur Verwendung der Streitkräfte
bei einem besonders schweren Unglücksfall, der von einem Luftfahrzeug
ausgeht (§§ 13 bis 15 LuftSiG). Zum anderen waren die gesetzlichen
Bestimmungen zur Prüfung gestellt, die es dem Bund erlauben,
Luftsicherheitsaufgaben, die den Ländern zur Ausführung in
Auftragsverwaltung übertragen sind, durch Entscheidung des
Bundesministeriums des Innern wieder an sich zu ziehen (§ 16 Abs. 3 Satz
2 und 3 i. V. m. § 16 Abs. 2 LuftSiG sowie Art. 2 Nr. 10 des Gesetzes
zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005).
Hinsichtlich des § 14 Abs. 3 LuftSiG, der die unmittelbare Einwirkung
gegen Luftfahrzeuge mit Waffengewalt regelt, wurde der Antrag für
erledigt erklärt, nachdem der Erste Senat die Bestimmung mit Urteil vom
15. Februar 2006 - 1 BvR 357/05 - (BVerfGE 115, 118) für nichtig erklärt
hatte. Insoweit war das Verfahren einzustellen.
Gemäß dem heute veröffentlichten Beschluss vom 20. März 2013 ist § 13
Abs. 3 Satz 2 und 3 des Luftsicherheitsgesetzes, wonach bei einem
überregionalen Katastrophennotstand im Eilfall der Bundesminister der
Verteidigung die Entscheidung über einen Einsatz der Streitkräfte
trifft, mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Im Übrigen sind die
Vorschriften, die zu prüfen waren, verfassungsgemäß.
Dem Beschluss ging eine Entscheidung des Plenums des
Bundesverfassungsgerichts voraus. Das Plenum hat mit Beschluss vom 3.
Juli 2012 - 2 PBvU 1/11 - (vgl. Pressemitteilung Nr. 63/2012 vom 17.
August 2012) über drei Verfassungsfragen entschieden, die der Zweite
Senat abweichend von dem Urteil des Ersten Senats aus dem Jahr 2006
beantworten wollte. Der Entscheidung im vorliegenden Verfahren war die
Rechtsauffassung des Plenums zu diesen Fragen zugrunde zu legen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Im Zeitraum seit der ersten Beratung am 24. November 2009 sind vier
Richter aus dem Senat ausgeschieden. Die Beratung musste gemäß § 15 Abs.
3 Satz 2 BVerfGG neu begonnen werden, da die neu hinzugekommenen Richter
Huber, Hermanns, Müller und Kessal-Wulf nicht zur Fortsetzung der
bereits begonnenen Beratung hinzutreten können und der Senat mit den aus
der früheren Besetzung verbliebenen vier Richtern nicht beschlussfähig
ist. Eine erneute mündliche Verhandlung war nicht erforderlich, weil die
Antragstellerinnen auf sie verzichtet haben.
2. § 13 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG ist mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG
unvereinbar und nichtig. Die Regelungen zur Eilzuständigkeit des
Bundesministers der Verteidigung sind unvereinbar mit Art. 35 Abs. 3
Satz 1 GG, der einen Einsatz der Streitkräfte auch in Eilfällen allein
aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Kollegialorgan
zulässt. Dies ergibt sich aus dem Beschluss des Plenums vom 3. Juli 2012
(vgl. Nr. 3 des Tenors sowie Rn. 52 ff.).
3. Im Übrigen sind die zu prüfenden Vorschriften mit dem Grundgesetz
vereinbar.
a) Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Art. 73 Nr.
6 GG a. F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die
ausschließliche Gesetzgebung über den Luftverkehr zuweist (vgl.
Plenumsbeschluss, Nr. 1 des Tenors sowie Rn. 14 ff.), sowie, für die
Vorschriften zur Rückverlagerung von Verwaltungsaufgaben auf den Bund,
jedenfalls aus Art. 87d Abs. 2 GG. Eine Zustimmung des Bundesrates war,
wie das Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich in einem anderen
Verfahren entschieden hat, nicht erforderlich (vgl. BVerfGE 126, 77).
b) Die §§ 13 und 14 LuftSiG sind materiell verfassungsgemäß.
aa) Nach § 14 Abs. 1 i. V. m. § 13 LuftSiG dürfen die Streitkräfte unter
näher bezeichneten Voraussetzungen im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen,
zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder
Warnschüsse abgeben. Damit wird ein Einsatz der Streitkräfte mit
spezifisch militärischen Mitteln zugelassen. Die Sperrwirkung des Art.
87a Abs. 4 GG, der den Einsatz der Streitkräfte im Fall des inneren
Notstandes regelt, steht dem nicht entgegen. In Ausnahmesituationen, die
nicht von der in Art. 87a Abs. 4 GG geregelten Art sind, kann ein
Einsatz der Streitkräfte auf der Grundlage des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG
auch zur Bekämpfung eines Angreifers zulässig sein (vgl.
Plenumsbeschluss, Rn. 46). Um solche Ausnahmesituationen handelt es sich
bei der Abwehr von Gefahren nach §§ 13, 14 LuftSiG.
bb) Der Annahme eines besonders schweren Unglücksfalls steht bei einem
Ereignis von katastrophischem Ausmaß nicht entgegen, dass es absichtlich
herbeigeführt ist (vgl. Plenumsbeschluss, Rn. 46).
cc) Ein Verfassungsverstoß liegt auch nicht darin, dass ein Einsatz nach
dem Wortlaut der zu prüfenden Vorschriften nicht erst dann zulässig sein
soll, wenn ein besonders schwerer Unglücksfall eingetreten ist, sondern
- unter näher bezeichneten Voraussetzungen - bereits dann, wenn er
„bevorsteht“ (§ 13 Abs. 1 LuftSiG) und Einsatzmaßnahmen „zur
Verhinderung des Eintritts“ des besonders schweren Unglücksfalles (§ 14
Abs. 1 LuftSiG) erforderlich sind. Die Wortwahl der Regelungen
entspricht derjenigen des Ersten Senats in seinem Urteil aus dem Jahr
2006. Eine inhaltliche Abweichung von der Auslegung der
verfassungsrechtlichen Einsatzvoraussetzungen durch den Plenumsbeschluss
vom 3. Juli 2012 liegt darin nicht. Von einem Unglücksfall kann nach dem
Plenumsbeschluss auch dann gesprochen werden, wenn zwar die zu
erwartenden Schäden noch nicht eingetreten sind, der Unglücksverlauf
aber bereits begonnen hat und der Eintritt katastrophaler Schäden
unmittelbar droht. Ist die Katastrophe bereits in Gang gesetzt und kann
sie nur noch durch den Einsatz der Streitkräfte unterbrochen werden,
muss nicht abgewartet werden, bis der Schaden sich realisiert hat (Rn.
47). In der Frage, ob und inwieweit bereits vor Schadensverwirklichung
eingeschritten werden darf, grenzt demnach der Plenumsbeschluss die
Einsatzvoraussetzungen der Sache nach nicht anders ein als das Urteil
des Ersten Senats aus dem Jahr 2006.
dd) Mit der Anknüpfung an das - Art. 35 GG entnommene -
Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Unglücksfalles nehmen § 13
Abs. 1 und § 14 Abs. 1 LuftSiG alle darin liegenden Beschränkungen (vgl.
Plenumsbeschluss, Rn. 26, 43, 46, 51) auf. Die Regelungen genügen
insoweit auch dem Bestimmtheitsgrundsatz. Es ist nicht ersichtlich, dass
Präzisierungen geeignet sein könnten, die Orientierungsfunktion der
gesetzlichen Vorgaben in sachangemessener Weise deutlich zu verbessern.
ee) Ebenfalls gewahrt ist die strenge verfassungsrechtliche Beschränkung
des Streitkräfteeinsatzes auf das Erforderliche, die sowohl das „Ob“ als
auch das „Wie“ des Einsatzes, einschließlich der konkreten
Einsatzmittel, betrifft (vgl. Plenumsbeschluss, Rn. 48).
c) Bei verfassungskonformer Auslegung ist auch § 15 LuftSiG mit dem
Grundgesetz vereinbar. Nach § 15 Abs. 1 Satz 2 LuftSiG können die
Streitkräfte auf Ersuchen der für die Flugsicherung zuständigen Stelle
im Luftraum Luftfahrzeuge überprüfen, umleiten oder warnen. Der
Gesetzgeber hat diese Maßnahmen als bloße Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG)
konzipiert.
Dies entspricht der verfassungsrechtlichen Abgrenzung. Art. 87a Abs. 2
GG bindet nicht jede Nutzung personeller und sächlicher Ressourcen der
Streitkräfte an eine ausdrückliche grundgesetzliche Zulassung, sondern
nur ihre Verwendung als Mittel der vollziehenden Gewalt in einem
Eingriffszusammenhang. Die Reaktion auf Luftzwischenfälle in rein
technisch-unterstützender Funktion verbleibt im Rahmen des Art. 35 Abs.
1 GG und ist daher von den Beschränkungen, die für einen Einsatz der
Streitkräfte nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG gelten, nicht betroffen (vgl.
Plenumsbeschluss, Rn. 50).
Allerdings liegt eine Verwendung in einem Eingriffszusammenhang nicht
erst bei einem konkreten Vorgehen mit Zwang, sondern bereits dann vor,
wenn personelle oder sachliche Mittel der Streitkräfte in ihrem Droh-
oder Einschüchterungspotential genutzt werden (vgl. Plenumsbeschluss,
Rn. 50). Ergibt die Überprüfung, dass eine Nutzung des überprüften
Flugzeugs als Angriffsmittel beabsichtigt ist, scheidet daher eine
weitere Deutung als bloße Unterstützung aus; die Aktion kann dann nur
noch als Entfaltung des Droh- und Einschüchterungspotentials der
eingesetzten militärischen Mittel verstanden werden. Ihre Fortsetzung
ist folglich nicht mehr auf der Grundlage des § 15 LuftSiG, sondern nur
noch, sobald die hierfür erforderliche Einsatzentscheidung getroffen
ist, als Einsatz nach §§ 13, 14 LuftSiG zulässig.
d) § 16 Abs. 3 Satz 2 und 3 i. V. m. § 16 Abs. 2 LuftSiG sowie Art. 2
Nr. 10 des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben sind
ebenfalls mit dem Grundgesetz vereinbar. Dass die materiellrechtlichen
Voraussetzungen für eine Rückübertragung von Aufgaben auf den Bund hier
nur generalklauselartig geregelt sind, verstößt nicht gegen den
rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Der Gesetzgeber ist nach
diesem Grundsatz nur gehalten, Normen so bestimmt zu fassen, wie dies
nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf
den Normzweck möglich ist.
Es verstößt auch nicht gegen die Pflicht zu bundesfreundlichem
Verhalten, dass der Gesetzgeber die Rückübertragungsmöglichkeit, anders
als früher, nicht mehr an einen Antrag des betroffenen Landes knüpft.
Der Bund verstößt gegen diese Pflicht nicht schon dadurch, dass er von
einer ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenz Gebrauch macht;
vielmehr muss deren Inanspruchnahme missbräuchlich sein. In der bloßen
gesetzlichen Eröffnung der Möglichkeit der Rückübertragung kann eine
missbräuchliche Inanspruchnahme von Kompetenzen oder ein Verstoß gegen
Verfahrensanforderungen, die sich aus dem Grundsatz bundesfreundlichen
Verhaltens ergeben, nicht gesehen werden.
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