Mit einem heute veröffentlichten Beschluss hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts präzisiert, in welchen Fällen vor Erhebung der
Verfassungsbeschwerde beim letztinstanzlichen Fachgericht eine
Anhörungsrüge erhoben werden muss. Zur Erschöpfung des Rechtswegs muss
im Grundsatz kein Anhörungsrügeverfahren durchlaufen werden, wenn eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht zum Gegenstand der
Verfassungsbeschwerde gemacht wird. In Einzelfällen kann dies jedoch aus
Subsidiaritätsgründen erforderlich sein, wenn den Umständen nach ein
Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde beanstanden die Beschwerdeführer
insbesondere, dass das Oberverwaltungsgericht ihren Antrag auf Zulassung
der Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil abgelehnt hat.
Sie hatten vor dem Verwaltungsgericht Klage gegen einen deichrechtlichen
Planfeststellungsbeschluss erhoben. Nach diesem soll auf einem ihrer
Grundstücke - anstelle einer bestehenden Hochwasserschutzmauer - ein
sogenannter grüner Deich errichtet werden.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage der Beschwerdeführer weitgehend
ab; eine Verletzung des Abwägungsgebotes könnten sie nicht mit Erfolg
geltend machen. Den Antrag der Beschwer-deführer auf Zulassung der
Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht ab. Zwar sei das
Verwaltungsgericht offensichtlich irrig davon ausgegangen, das
Grundstück der Beschwerdeführer werde nicht dauerhaft, sondern nur
während der Bauzeit im Umfang eines Arbeitsstreifens in Anspruch
genommen. Dies sei jedoch für die Ergebnisrichtigkeit des Urteils ohne
Bedeutung, da die dauerhafte teilweise Inanspruchnahme dieses
Grundstücks ordnungsgemäß in die planerische Abwägung eingestellt worden
sei.
2. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt die
Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Er wird aufgehoben und die Sache dorthin
zurückverwiesen.
a) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass
die Beschwerdeführer keine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts erhoben haben.
aa) Wird mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör geltend gemacht, so gehört eine Anhörungsrüge an das
Fachgericht zu dem Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit
einer Verfassungsbeschwerde im Regelfall abhängig ist. Wird die Rüge
einer Gehörsverletzung hingegen weder ausdrücklich noch der Sache nach
zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht oder wird die zunächst
wirksam im Verfassungsbeschwerdeverfahren erhobene Rüge einer
Gehörsverletzung wieder zurück genommen, hängt die Zulässigkeit der
Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der
Rechtswegerschöpfung nicht von der vorherigen Durchführung eines
fachgerichtlichen Anhörungsrügeverfahrens ab.
Vorliegend machen die Beschwerdeführer mit ihrer Verfassungsbeschwerde
weder ausdrücklich noch der Sache nach eine Verletzung ihres Anspruchs
auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend. Auch wenn einzelne
Ausführungen - isoliert betrachtet - als Rügen einer Gehörsverletzung
gedeutet werden könnten, dienen sie im Zusammenhang der
Verfassungsbeschwerde dem Ziel zu begründen, dass das
Oberverwaltungsgericht unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die
Berufungszulassungsgründe verkannt habe.
bb) Aufgrund der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde können
Beschwerdeführer jedoch gehalten sein, im fachgerichtlichen Verfahren
eine Gehörsverletzung mit einer Anhörungsrüge auch dann anzugreifen,
wenn sie sich in der Verfassungsbeschwerde nicht auf eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen. Dies gilt dann, wenn ein
Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre,
dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend
gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren den Rechtsbehelf
ergreifen würden.
Im vorliegenden Fall ist der Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde nicht verletzt. Es gibt insbesondere keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführer lediglich eine Versäumung
der Anhörungsrüge umgehen wollten.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Oberverwaltungsgericht
hat durch seine Handhabung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel
an der Richtigkeit eines Urteils den Zugang zur Berufungsinstanz in
sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verengt und dadurch das Gebot
effektiven Rechtsschutzes verletzt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen
Urteils sind immer schon dann begründet, wenn der Rechtsmittelführer
einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche
Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt.
Dies ist den Beschwerdeführern gelungen. Sie haben aufgezeigt, dass das
Verwaltungsgericht in einem wesentlichen Punkt von falschen Annahmen
über die Festsetzungen im Planfeststellungsbeschluss ausgegangen ist.
Das Oberverwaltungsgericht hat bereits im Berufungszulassungsverfahren
eine eigene Prüfung der fachplanerischen Abwägungsentscheidung
vorgenommen und dabei das Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis für
richtig befunden. Dies geht über den eingeschränkten Zweck des
Zulassungsverfahrens hinaus, das den Beteiligten zudem - insbesondere
mangels förmlichen Beweisaufnahmeverfahrens - von vornherein weniger
Einwirkungsmöglichkeiten auf die Tatsachenfeststellung einräumt als das
Hauptsacheverfahren. Die Vorverlagerung der Sachprüfung in das
Zulassungsverfahren stellt einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
dar.
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