Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat
Verfassungsbeschwerden wegen der Tötung und Verletzung von Zivilpersonen
bei der Zerstörung einer Brücke im Kosovo-Krieg mangels Erfolgsaussicht
nicht zur Entscheidung angenommen. Die Fachgerichte - zuletzt der
Bundesgerichtshof - hatten diesbezügliche Klagen gegen die
Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz und Schmerzensgeld
abgewiesen; diese Entscheidungen haben im Ergebnis Bestand.
Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen
zugrunde:
1. Während der Luftoperation „Allied Force“ griffen zwei Kampfflugzeuge
der NATO am 30. Mai 1999 in der serbischen Stadt Varvarin eine Brücke
über den Fluss Morawa an und zerstörten sie durch den Beschuss mit
insgesamt vier Raketen. Infolge dieses Angriffs wurden zehn Menschen
getötet und 30 verletzt, 17 davon schwer, wobei es sich durchweg um
Zivilpersonen handelte. Flugzeuge der Bundesrepublik Deutschland waren
an der Zerstörung der Brücke nicht unmittelbar beteiligt, befanden sich
jedoch am Tag des Angriffs im Einsatz. Ob und inwieweit die eingesetzten
deutschen Aufklärungsflugzeuge auch den Angriff auf die Brücke von
Varvarin abgesichert haben, ist zwischen den Beschwerdeführern und der
Bundesrepublik Deutschland im fachgerichtlichen Verfahren streitig
geblieben.
2. Die Beschwerdeführer nehmen die Bundesrepublik Deutschland auf
Schadensersatz und auf Schmerzensgeld wegen der Tötung ihrer Angehörigen
bzw. ihrer eigenen Verletzungen in Anspruch. Vor den Zivilgerichten
blieben die Klagen in allen Instanzen erfolglos. Hiergegen wenden sich
die Beschwerdeführer mit ihren Verfassungsbeschwerden.
3. Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen,
weil die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.
a) Die Verfassungsbeschwerden sind jedenfalls unbegründet, soweit
völkerrechtliche Ansprüche betroffen sind.
Mit der Verfassungsbeschwerde kann zwar grundsätzlich geltend gemacht
werden, dass zivilgerichtliche Urteile nicht zur verfassungsmäßigen
Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG gehörten, weil sie sich über
völkergewohnheitsrechtliche Regeln hinweggesetzt hätten. Es gibt jedoch
keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der dem Einzelnen bei
Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf
Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat
zusteht. Derartige Ansprüche stehen grundsätzlich nur dem Heimatstaat
des Geschädigten zu oder sind von diesem geltend zu machen. Art. 3 des
IV. Haager Abkommens und Art. 91 des Protokolls I begründen keine
unmittelbaren individuellen Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche
bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, weshalb offenbleiben
kann, ob diese Vorschriften völkergewohnheitsrechtliche Geltung erlangt
haben.
Die Beschwerdeführer sind auch nicht in ihrem grundrechtsgleichen Recht
auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Eine
Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG an das Bundesverfassungsgericht ist zwar
geboten, wenn das erkennende Gericht bei der Prüfung der Frage, ob und
mit welcher Tragweite eine allgemeine Regel des Völkerrechts gilt, auf
ernstzunehmende Zweifel stößt, mag das Gericht selbst auch keine Zweifel
haben. Unzweifelhaft besteht jedoch keine allgemeine Regel des
Völkerrechts dergestalt, dass Individuen bei Verstößen gegen das
humanitäre Völkerrecht einen unmittelbaren Anspruch auf Schadensersatz
und Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat haben. Eine Vorlage
an das Bundesverfassungsgericht war daher nicht geboten; sie wäre sogar
unzulässig gewesen.
b) Soweit Grundrechtsverletzungen wegen der Ablehnung von
Amtshaftungsansprüchen geltend gemacht werden, ist deutlich abzusehen,
dass die Beschwerdeführer auch nach einer Zurückverweisung an die
Fachgerichte im Ergebnis keinen Erfolg hätten. Zwar bestehen
verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Entscheidungen des
Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs, soweit sie der
Bundesregierung einen Beurteilungsspielraum bei der Auswahl
militärischer Ziele zubilligen und eine uneingeschränkte Darlegungs- und
Beweislast der Beschwerdeführer für den subjektiven Haftungstatbestand
annehmen.
In der Sache kann jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass auf der
Stufe der als amtspflichtwidrig gerügten Maßnahme - der
widerspruchslosen Aufnahme der Brücke von Varvarin in die Zielliste -
noch keine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des
konkreten Angriffs auf die Brücke getroffen wurde und auch nicht
getroffen werden konnte. Demgemäß galt für die Erstellung der Ziellisten
von vornherein ein anderer Sorgfaltsmaßstab als für die konkrete
Einsatzentscheidung. Nach dem Sach- und Streitstand spricht alles dafür,
dass sich dieser Sorgfaltsmaßstab im Ergebnis nicht von demjenigen
unterscheidet, den Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof entwickelt
haben.
Auch kann ein den Beschwerdeführern günstigeres Ergebnis wohl für den
Fall ausgeschlossen werden, dass das nach Zurückverweisung mit der Sache
befasste Gericht der beklagten Bundesrepublik Deutschland eine sekundäre
Darlegungslast auferlegt. Denn eine Haftung kommt nur in Betracht, wenn
deutsche Amtsträger von den konkreten Umständen des Angriffs Kenntnis
gehabt hätten. Diese Kenntnis hat die Bundesrepublik Deutschland unter
Hinweis auf die „need-to-know-Regel“ widerlegt, nach der es
militärischer Praxis bei NATO-Operationen entspricht, dass nur die
unmittelbar mit der Operation befassten Streitkräfte die für den Einsatz
notwendigen Informationen erhalten. Es ist nicht ersichtlich, was die
Bundesrepublik Deutschland weiter hätte vortragen sollen oder können, um
ihre fehlende Kenntnis darzulegen oder den Beschwerdeführern
sachgerechten Vortrag zu ermöglichen.
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