Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat sich in einem heute
veröffentlichten Beschluss zu den Voraussetzungen für die Beobachtung
von Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes geäußert. Die
Beobachtung stellt demnach einen Eingriff in das freie Mandat dar. Er
unterliegt strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Die
langjährige Beobachtung des Beschwerdeführers, eines ehemaligen
Bundestags- und jetzigen Landtagsabgeordneten für die Partei DIE LINKE,
genügt diesen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer war ab Oktober 1999 Mitglied des Thüringer
Landtags. Von Oktober 2005 bis September 2009 war er Mitglied des
Deutschen Bundestags und der Fraktion DIE LINKE sowie deren
stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Seit Herbst 2009 ist er
Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag.
2. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet einzelne Mitglieder
des Deutschen Bundestags, die der Fraktion DIE LINKE angehören. Seit
1986 führt es über den Beschwerdeführer eine Personenakte, in der
Informationen gesammelt sind, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen.
Die gesammelten Informationen betreffen die Tätigkeit des
Beschwerdeführers in der und für die Partei sowie ab 1999 auch seine
Abgeordnetentätigkeit, jedoch ohne sein Abstimmungsverhalten und seine
Äußerungen im Parlament sowie in den Ausschüssen. Das Bundesamt für
Verfassungsschutz wertet jedoch parlamentarische Drucksachen aus und
gewinnt auch Informationen über sonstige politische Aktivitäten des
Beschwerdeführers. Nach den Feststellungen der Fachgerichte ist der
Beschwerdeführer individuell nicht verdächtig, Bestrebungen gegen die
freiheitliche demokratische Grundordnung zu verfolgen. Seine Beobachtung
wird ausschließlich mit seiner Mitgliedschaft und seinen Funktionen in
der Partei DIE LINKE begründet.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer ein -
die Beobachtung billigendes - Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
21. Juli 2010 (BVerwGE 137, 275) an.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Das angegriffene Urteil verletzt das freie Mandat des Beschwerdeführers.
Es wird aufgehoben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht
zurückverwiesen.
1. a) Das freie Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet die
freie Willensbildung des Abgeordneten und damit auch eine von
staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen dem
Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Das Gebot freier
Willensbildung steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der
parlamentarischen Demokratie gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. In der
repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes vollziehen sich die
Willensbildung des Volkes und die Willensbildung in den Staatsorganen in
einer kontinuierlichen und vielfältigen Wechselwirkung. Dieser
kommunikative Prozess, bei dem der Abgeordnete nicht nur Informationen
weitergibt, sondern auch Informationen empfängt, ist vom Schutz des
freien Mandats umfasst.
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet in diesem Zusammenhang auch die
Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung
und Kontrolle und steht insoweit in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz
der Gewaltenteilung gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Die einzelnen
Abgeordneten sind zwar nicht von vornherein jeder exekutiven Kontrolle
entzogen. Diese ist jedoch in erster Linie eine eigene Angelegenheit des
Deutschen Bundestages, der dabei im Rahmen der Parlamentsautonomie
handelt.
Die Freiheit des Abgeordneten von exekutiver Beobachtung,
Beaufsichtigung und Kontrolle gilt - vermittelt über Art. 28 Abs. 1 GG -
auch für die Mitglieder der Volksvertretungen in den Ländern. Sie kann
im vorliegenden Fall mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht
werden, weil der Beschwerdeführer das Urteil eines Bundesgerichts
angreift.
b) In der Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des
Verfassungsschutzes und der damit verbundenen Sammlung und Speicherung
von Daten liegt ein Eingriff in das freie Mandat. Dieser Eingriff kann
im Einzelfall gerechtfertigt sein, unterliegt jedoch strengen
Verhältnismäßigkeitsanforderungen.
Ein Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf
gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht oder
diese aktiv und aggressiv bekämpft.
Die Parteimitgliedschaft des Abgeordneten kann ein Aspekt der gebotenen
Gesamtbeurteilung sein. Artikel 21 GG weist den Parteien eine
wesentliche Rolle für die politische Willensbildung des Volkes in der
demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu. Aufgrund dessen
ist davon auszugehen, dass ein parteipolitisches Engagement, welches
seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
steht, diese stärkt. Für sich genommen vermag die bloße
Parteimitgliedschaft daher nur eine vorübergehende Beobachtung zu
rechtfertigen, die der Klärung der Funktionen des Abgeordneten, seiner
Bedeutung und Stellung in der Partei, seines Verhältnisses zu
verfassungsfeindlichen Strömungen sowie der Beurteilung von deren
Relevanz innerhalb der Partei und für das Wirken des Abgeordneten dient.
Eine Beschränkung des freien Mandats durch die Beobachtung von
Abgeordneten bedarf darüber hinaus einer gesetzlichen Grundlage, die den
rechtsstaatlichen Anforderungen der Bestimmtheit und Klarheit genügt.
2. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2010 trägt
diesen Maßstäben nicht hinreichend Rechnung. In der Beobachtung des
Beschwerdeführers durch das Bundesamt für Verfassungsschutz liegt nach
den vorstehenden Maßstäben ein Eingriff in dessen freie Mandatsausübung,
der nicht gerechtfertigt ist.
a) Der Senat geht dabei von der Feststellung der Fachgerichte aus, dass
die Informationserhebung ohne den Einsatz von Methoden der heimlichen
Informationsbeschaffung erfolgt. Soweit der Beschwerdeführer rügt, der
Verfassungsschutz wende auch Methoden der heimlichen
Informationsbeschaffung an, hat er verfassungsrechtlich relevante
Verstöße der Fachgerichte bei der gegenteiligen Feststellung nicht
aufgezeigt.
b) Die maßgeblichen Normen im Bundesverfassungsschutzgesetz stellen eine
den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügende, hinreichend
bestimmte Rechtsgrundlage dar. Die wesentliche Entscheidung, ob
Mitglieder des Deutschen Bundestages der Beobachtung durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz unterzogen werden dürfen, hat der Gesetzgeber
selbst getroffen und sie bejaht. Der besonderen Schutzwürdigkeit von
Abgeordneten hat er ausreichend Rechnung getragen, indem § 8 Abs. 5 des
Bundesverfassungsschutzgesetzes die einfachgesetzliche Anordnung
enthält, dass die Beobachtung verhältnismäßig sein muss.
c) Die langjährige Beobachtung des Beschwerdeführers genügt jedoch den
Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht. Bei einer
Gesamtabwägung aller Umstände stehen die vom Bundesverwaltungsgericht
angenommenen geringfügigen zusätzlichen Erkenntnisse für die Ermittlung
eines umfassenden Bildes über die Partei außer Verhältnis zu der Schwere
des Eingriffs in das freie Mandat des Beschwerdeführers.
aa) Die Fachgerichte haben ausdrücklich festgestellt, dass der
Beschwerdeführer individuell nicht verdächtig ist, verfassungsfeindliche
Bestrebungen zu verfolgen. Tatsächliche Anhaltspunkte für einen solchen
Verdacht haben die Fachgerichte lediglich in Bezug auf einzelne
Untergliederungen der Partei DIE LINKE festgestellt, bei denen der
Beschwerdeführer weder zu den Angehörigen noch zu den Unterstützern
zählt. Von dem Beschwerdeführer selbst geht folglich auch unter
Einbeziehung seines Verhältnisses zu der Partei und den dort vorhandenen
Strömungen kein relevanter Beitrag für eine Gefährdung der
freiheitlichen demokratischen Grundordnung aus. Im Übrigen könnte das
Verhalten des Beschwerdeführers - insbesondere, ob er die radikalen
Kräfte aktiv bekämpft - seine Beobachtung allenfalls dann rechtfertigen,
wenn diesen Kräften bereits ein bestimmender Einfluss innerhalb der
Partei zukäme. Dafür ist im fachgerichtlichen Verfahren nichts
festgestellt.
bb) Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist nach den obigen Maßstäben die
Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, die Tätigkeit des
Beschwerdeführers sei dennoch objektiv geeignet, die
verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu unterstützen; gefährlich für die
freiheitliche demokratische Grundordnung könnten auch Personen sein, die
selbst auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
stünden, jedoch bei objektiver Betrachtung durch ihre Tätigkeit
verfassungsfeindliche Bestrebungen förderten, ohne dies zu erkennen oder
als hinreichenden Grund anzusehen, einen aus anderen Beweggründen
unterstützten Personenzusammenhang zu verlassen. Das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts verkennt insoweit, dass ein parteipolitisches
Engagement, das seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Dies gilt auch und
gerade dann, wenn es in einer Partei stattfindet, in der
unterschiedliche Kräfte und Strömungen miteinander um Einfluss ringen.
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt darüber hinaus, dass auch die
eingesetzten Mittel des Bundesamtes für Verfassungsschutz
unverhältnismäßig sind, soweit das Verhalten des Beschwerdeführers im
von Art. 46 Abs. 1 GG besonders geschützten parlamentarischen Bereich
betroffen ist. Hinsichtlich der vom Bundesverwaltungsgericht
festgestellten Sammlung und Auswertung parlamentarischer Drucksachen hat
die insoweit erforderliche Abwägung nicht stattgefunden.
3. Antragsteller in den Organstreitverfahren sind der Beschwerdeführer
sowie die Bundestagsfraktion DIE LINKE. Die Anträge sind unzulässig,
weil sie nicht statthaft beziehungsweise die Antragsteller jeweils nicht
antragsbefugt sind. Soweit die Antragsteller in späteren Schriftsätzen
weitere oder geänderte Anträge gestellt haben, ist die sechsmonatige
Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht gewahrt.
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