Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit
heute veröffentlichtem Beschluss dem Landgericht Waldshut-Tiengen im
Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache
die Vernehmung einer Zeugin untersagt, sofern diese Vernehmung nicht
audiovisuell durchgeführt wird. Bei der audiovisuellen Zeugenvernehmung
wird die Aussage aus einem anderen Raum zeitgleich in Bild und Ton in
den Sitzungssaal übertragen. Die Beschwerdeführerin ist ein mutmaßliches
Opfer des Angeklagten, dem Sexual- und Körperverletzungsdelikte zur Last
gelegt werden. Zur Begründung verweist die Kammer im Wege der
Folgenabwägung auf die Gefahr einer irreparablen Rechtsbeeinträchtigung,
falls die Vernehmung im Sitzungssaal tatsächlich, wie von der
Beschwerdeführerin geltend gemacht, zu einer Retraumatisierung aufgrund
der unmittelbaren Konfrontation mit dem Angeklagten führt.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin ist für den 4. März 2014 in einem Strafprozess
vor dem Landgericht Waldshut-Tiengen als Zeugin geladen. Die
Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, Frauen in mehreren Fällen
- auch der Beschwerdeführerin - bei Verabredungen heimlich
bewusstseinstrübende Substanzen in ihre Getränke gemischt und mit ihnen
gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben. Der
Angeklagte streitet die Vorwürfe mit der Begründung ab, der
Geschlechtsverkehr sei jeweils einvernehmlich erfolgt.
Die Beschwerdeführerin hat beantragt, die Zeugenvernehmung gemäß § 247a
Abs. 1 Strafprozessordnung audiovisuell durchzuführen, da anderenfalls
die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihr psychisches
Wohl bestehe. Sie habe das Geschehen verdrängt und einem emotionalen
Zugang verschlossen. Bereits die Zeugenvernehmung durch die Polizei habe
ihr Leben „aus den Bahnen“ geworfen. Erste therapeutische Fortschritte
seien gefährdet, wenn sie erneut mit dem Angeklagten im selben Raum
konfrontiert werde oder in der Atmosphäre einer Hauptverhandlung -
selbst bei Ausschluss der Öffentlichkeit - das angeklagte Tatgeschehen
in unmittelbarer Gegenwart der im Strafverfahren notwendig Anwesenden
schildern müsse. Dies komme einem erneuten Durchleben der Tat mit
Zuschauern gleich.
Das Landgericht lehnte den Antrag durch Beschluss vom 5. Februar 2014
ab. Die Beschwerdeführerin hat hiergegen Verfassungsbeschwerde erhoben
und diese mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
verbunden.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Nach § 32 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz kann das
Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige
Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum
gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die
Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden,
grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die
Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich
unbegründet. Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die
Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge,
die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen
abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung
erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen
wäre.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch
offensichtlich unbegründet.
Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht Bedeutung und
Tragweite des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf körperliche
Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verkannt hat. Vorliegend
spricht vieles dafür, dass das Landgericht seine Abwägungsentscheidung
zu Gunsten der Interessen des Angeklagten und der Strafrechtspflege
getroffen hat, ohne das entgegenstehende Interesse der
Beschwerdeführerin überhaupt zuverlässig gewichten zu können. Angesichts
der konkreten Anhaltspunkte für eine posttraumatische Belastungsstörung
in Gestalt eines ärztlichen Befundberichts und einer Stellungnahme des
Frauen- und Kinderschutzhauses, in welchen zudem ausdrücklich auf die im
Falle der unmittelbaren Vernehmung bestehende Gefahr der
„längerfristigen seelischen Destabilisierung“ hingewiesen worden ist,
hätte sich das Landgericht wohl nicht mehr darauf beschränken dürfen,
auf die nach seiner Auffassung nicht eindeutig festgestellte Gefahr für
die seelische Gesundheit der Beschwerdeführerin zu verweisen. Die
Annahme liegt nicht fern, dass das Gericht gehalten war, durch
ergänzende Befragung der behandelnden Ärztin oder Zuziehung eines
Sachverständigen unter Berücksichtigung der individuellen Belastbarkeit
der Beschwerdeführerin bestehende Zweifel über das Gewicht der drohenden
Nachteile und den Grad der Gefahr ihrer Verwirklichung auszuräumen, um
seine Abwägungsentscheidung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage
vornehmen zu können.
Auch der gerügte Verstoß gegen das Verbot objektiver Willkür (Art. 3
Abs. 1 GG) erscheint nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht
offensichtlich ausgeschlossen. Sollte eine unzureichende Ausstattung mit
technischen Sachmitteln ermessenslenkend auf die Entscheidung des
Gerichts eingewirkt haben, läge hierin eine sachfremde Erwägung, die
unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar wäre, ohne dass es
auf ein schuldhaftes Handeln des Gerichts ankäme. Die Erfolgsaussichten
der Verfassungsbeschwerde stellen sich - abhängig von den konkreten
Umständen - insoweit als offen dar.
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für
den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige
Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als
begründet, könnte die Vernehmung der Beschwerdeführerin in Anwesenheit
des Angeklagten und der notwendig Anwesenden in der Zwischenzeit
vollzogen werden. Gegenüber dieser Gefahr einer irreparablen
Rechtsbeeinträchtigung wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine
einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde in der
Hauptsache aber keinen Erfolg hätte, weniger schwer.
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