Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat beschlossen, dass über
zwei Verfassungsbeschwerden zum sog. Kopftuch-Verbot in
nordrhein-westfälischen Schulen wegen Besorgnis der Befangenheit ohne
Mitwirkung von Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof zu entscheiden
ist. Maßstab hierfür ist nicht, ob ein Richter tatsächlich „parteilich“
oder „befangen“ ist, sondern ob ein Verfahrensbeteiligter bei
vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der
Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Eine solche Konstellation
liegt hier vor, denn in einer Gesamtbetrachtung kommt Vizepräsident
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof gleichsam eine Art Urheberschaft für das zu
beurteilende Rechtskonzept zu. Nach den gesetzlichen Bestimmungen wird
ein Richter bzw. eine Richterin des Zweiten Senats durch Los als
Vertretung bestimmt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Verfassungsbeschwerden betreffen arbeitsgerichtliche
Entscheidungen über Abmahnungen bzw. eine Kündigung, die das Land
Nordrhein-Westfalen als Arbeitgeber ausgesprochen hat, nachdem sich die
Beschwerdeführerinnen als Angestellte an öffentlichen Schulen geweigert
hatten, im Dienst ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch bzw.
eine als Ersatz hierfür getragene Wollmütze abzulegen. Die
Verfassungsbeschwerden stellen zugleich mittelbar die landesgesetzlichen
Regelungen über Zulässigkeit und Grenzen religiöser Bekundungen durch im
Schulwesen beschäftigte Personen zur verfassungsrechtlichen Prüfung.
Die Beschwerdeführerinnen halten Vizepräsident Kirchhof wegen
Vorbefassung von der Mitwirkung für ausgeschlossen und haben ihn wegen
Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Auch der Richter selbst hat um
eine Entscheidung hierzu gebeten.
2. Vizepräsident Kirchhof ist in den vorliegenden Verfahren nicht kraft
Gesetzes von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen. Nach § 18
Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ist ein Richter des Bundesverfassungsgerichts von
der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben
Sache von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Dabei ist das
Tatbestandsmerkmal „derselben Sache“ in einem strikt verfahrensbezogenen
Sinne zu verstehen. Zu einem Ausschluss kann deshalb regelmäßig nur eine
Tätigkeit in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren selbst oder in dem
diesem unmittelbar vorausgegangenen und ihm sachlich zugeordneten
Verfahren führen. Nach § 18 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 BVerfGG sind die
Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren und die Äußerung einer
wissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren bedeutsamen
Rechtsfrage nicht als ein Tätigwerden „in derselben Sache“ anzusehen.
Vizepräsident Kirchhof war an den beiden arbeitsgerichtlichen
Ausgangsverfahren weder als Bevollmächtigter noch sonst beteiligt. Die
Mitwirkung von Vizepräsident Kirchhof als Hochschullehrer in
Gesetzgebungsverfahren mehrerer Länder zum selben Regelungsgegenstand,
so in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, ist von der
Ausschlusswirkung nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich
ausgenommen.
3. Die von Vizepräsident Kirchhof angezeigten und von den
Beschwerdeführerinnen mitgeteilten Umstände geben den
Beschwerdeführerinnen allerdings nachvollziehbar Anlass, an der
Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (§ 19 BVerfGG).
Die Ablehnung eines Richters des Bundesverfassungsgerichts nach § 19
BVerfGG setzt voraus, dass ein Grund vorliegt, der geeignet ist,
Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Es kommt
mithin nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich „parteilich“ oder
„befangen“ ist, oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend
ist ausschließlich, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger
Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des
Richters zu zweifeln. Allerdings kann eine Besorgnis der Befangenheit
nicht aus den allgemeinen Gründen hergeleitet werden, die nach der
ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs. 2 und 3 BVerfGG einen Ausschluss
von der Ausübung des Richteramts nicht rechtfertigen. Daher muss stets
etwas Zusätzliches gegeben sein, das über die Tatsache der Mitwirkung am
Gesetzgebungsverfahren und des Äußerns einer wissenschaftlichen Meinung
hinausgeht, damit eine Besorgnis der Befangenheit als begründet
erscheinen kann.
Die vorliegende besondere Fallgestaltung ist durch solche zusätzlichen
Umstände gekennzeichnet. Diese ergeben sich aus einer summativen
Wirkung, die über eine bloße Mitwirkung in einem Gesetzgebungsverfahren
hinausreicht und letztlich in besonderer Weise zur Übernahme einer
Gewährfunktion für die Verfassungsmäßigkeit der Regelung gerade in den
hier angegriffenen Punkten geführt hat.
So hat der Richter nach der Vertretung des Landes Baden-Württemberg im
sogenannten Kopftuch-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahr
2003 (BVerfGE 108, 282) für die Landesregierung als Gesetzesinitiatorin
eine gesetzliche Vorschrift entworfen, deren Konzept ersichtlich auch
darauf gerichtet war, eine besondere Regelung für die Darstellung
christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte vorzusehen. Den
Gesetzentwurf hat er im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens als
Hochschullehrer beratend und unterstützend begleitet. Die so entstandene
Regelung des Landes Baden-Württemberg diente dem nordrhein-westfälischen
Landesgesetzgeber erkennbar als Vorbild. Vizepräsident Kirchhof hat sie
in seiner Stellungnahme für den Landtag Nordrhein-Westfalens
ausdrücklich ebenfalls für verfassungsgemäß befunden. Diese
grundsätzliche Position hat er in verschiedenen parlamentarischen
Anhörungen vertreten und ist dabei für eine differenzierte Betrachtung
der Symbole und Werte verschiedener Glaubensrichtungen eingetreten, aus
der die Beschwerdeführerinnen gerade die Gleichheitswidrigkeit der
Regelung herleiten. Hinzu kommt, dass der Richter auch in gerichtlichen
Verfahren das Regelungskonzept nachdrücklich verteidigt hat. Ihm kommt
damit - über die übliche Mitwirkung in Gesetzgebungsverfahren und das
Äußern wissenschaftlicher Meinungen zu einschlägigen Rechtsfragen
deutlich hinausgehend - gleichsam eine Art Urheberschaft für das auch
hier zu beurteilende Regelungskonzept zu. In den Augen der
Beschwerdeführerinnen ist er damit in ganz besonderer Weise der
Vertreter der von den Verfassungsbeschwerden bekämpften Regelung und
ihrer praktischen Anwendung.
4. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
weitere Pressemitteilungen
|