Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit
heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerden mehrerer
Unternehmen eines früheren Kartells europäischer Aufzugshersteller nicht
zur Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich
gegen die Beiziehung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten, die u.
a. vertrauliche Informationen aus dem Kartellverfahren enthalten, in
einem Schadensersatzprozess gegen die Beschwerdeführerinnen. Die
Auslegung der maßgeblichen straf- und zivilprozessualen Vorschriften
durch das Oberlandesgericht Hamm ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Danach hat die um Akteneinsicht ersuchte Staatsanwaltschaft
vorliegend nur eine abstrakte Zuständigkeitsprüfung vorzunehmen. Das um
Akteneinsicht ersuchende Landgericht entscheidet über die Verwertung der
beigezogenen Akten auf Grundlage einer Abwägung, die auch den
Grundrechten der Beschwerdeführerinnen hinreichend Rechnung tragen muss.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerinnen gehörten zu einem Kartell europäischer
Aufzughersteller. Im Kartellverfahren stellten die Beschwerdeführerinnen
sogenannte „Kronzeugenanträge“ bei der Europäischen Kommission, zum Teil
auch sogenannte „Bonusanträge“ beim Bundeskartellamt. Darin legten sie -
in der Hoffnung auf die hierfür zugesicherten milderen Sanktionen -
unter Mitteilung von geschäftlichen Interna die Strukturen des Kartells
offen. Der Verstoß gegen die Europäischen Wettbewerbsregeln ist
inzwischen rechtskräftig festgestellt. Das Bundeskartellamt gab die
Verfolgung der handelnden natürlichen Personen an die Staatsanwaltschaft
ab. So gelangte die Kopie eines von mehreren Beschwerdeführerinnen
gestellten Antrages nach der Bonusregelung zu den staatsanwaltlichen
Akten. Im Rahmen ihrer Ermittlungen erhielt die Staatsanwaltschaft vom
Konzern, zu dem einige der Beschwerdeführerinnen gehören, auch eine
Kopie der vertraulichen Fassung des Bußgeldbescheides der Europäischen
Kommission.
Im Dezember 2010 erhoben verschiedene Bauunternehmen vor dem Landgericht
Berlin Klage gegen die Beschwerdeführerinnen, um Ansprüche auf Ersatz
kartellbedingten Schadens geltend zu machen. Das Landgericht Berlin
beschloss, die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Düsseldorf
beizuziehen. Die Staatsanwaltschaft teilte den Beschwerdeführerinnen
mit, die beantragte Akteneinsicht gewähren zu wollen. Dagegen wandten
sich die Beschwerdeführerinnen jeweils mit einem Antrag auf gerichtliche
Entscheidung. Das Oberlandesgericht Hamm verwarf diese Anträge als
unbegründet.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an,
weil die aufgeworfenen Fragen in grundsätzlicher Hinsicht geklärt und
die Verfassungsbeschwerden nach diesen Maßstäben unbegründet sind.
Insbesondere liegt kein Verstoß gegen den Schutz von Betriebs- und
Geschäftsgeheimnissen aus Art. 12 Abs. 1 GG vor.
1. Das Oberlandesgericht hat die maßgeblichen Vorschriften der Straf-
und Zivilprozessordnung so ausgelegt, dass die Staatsanwaltschaft bei
gerichtlichen Ersuchen um Akteneinsicht im Regelfall nur eine abstrakte
Zuständigkeitsprüfung durchführt. Weder die Berufung der
Beschwerdeführerinnen auf eine drohende Verletzung des Schutzes von
Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen und der informationellen
Selbstbestimmung noch die Tatsache, dass die Ermittlungsakten
Informationen aus Kronzeugenanträgen und der vertraulichen
Kommissionentscheidung enthalten, hätten der Staatsanwaltschaft
besonderen Anlass zu einer weitergehenden Prüfung der Zulässigkeit der
Übermittlung geben müssen. Das um Akteneinsicht ersuchende Landgericht
trage die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung. Es werde
nach Erhalt der Akten eine Abwägung der betroffenen Interessen der
Beschwerdeführerinnen und der Schadensersatzklägerinnen durchzuführen
haben, bevor es Einsicht in die Ermittlungsakten gewähre.
2. Diese Auslegung der straf- und zivilprozessualen Vorschriften ist
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Eingriff in den Schutz
der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse aus Art. 12 Abs. 1 GG durch die
Gewährung von Akteneinsicht ist im vorliegenden Fall nicht
unverhältnismäßig.
a) Dem Zusammenspiel der Straf- und Zivilprozessordnung liegt nach der
nachvollziehbaren Auslegung des Oberlandesgerichts das Konzept zu
Grunde, dass das um Akteneinsicht ersuchende Gericht unter
Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Beschwerdeführerinnen
abwägt und so prüft, ob Informationen aus den angeforderten
Ermittlungsakten im Zivilverfahren verwertet - und damit zu anderen
Zwecken verwendet - werden können. Dies entspricht dem „Doppeltürmodell“
(vgl. BVerfGE 130, 151), das als Leitbild für den Datenaustausch zur
staatlichen Aufgabenwahrnehmung jeweils eigene Rechtsgrundlagen für die
korrespondierenden Eingriffe verlangt. Die Vorschriften der
Strafprozessordnung sind Grundlage für die Übermittlung, die
Zivilprozessordnung bietet die Grundlage für das Ersuchen und die
weitere Verwendung im Zivilprozess.
b) Nach der Auslegung dieser Vorschriften durch das Oberlandesgericht -
die auch der Rechtsansicht des ersuchenden Gerichts entspricht - kann
das Landgericht die übermittelten Akten nur nach Maßgabe einer Abwägung
verwerten; im Rahmen dieser Abwägung kann und muss den Grundrechten der
Beschwerdeführerinnen hinreichend Rechnung getragen werden. Diese
Abwägung muss die jeweiligen Vor- und Nachteile bei der Verwirklichung
der verschiedenen betroffenen Rechtsgüter in ihrer Gesamtheit
einbeziehen. Überträgt der Gesetzgeber die Bewältigung des
Rechtsgüterkonflikts wie hier der gerichtlichen Abwägung, ohne Kriterien
hierfür vorzugeben, muss die Darstellung der die Abwägung leitenden
Gesichtspunkte in der gerichtlichen Entscheidung einen wesentlichen
Beitrag zur Konkretisierung des Abwägungsprogramms, zur Rationalisierung
des Abwägungsvorgangs und zur Sicherung der Richtigkeit des
Abwägungsergebnisses leisten.
Dass die zivilprozessualen Überlegungen des Oberlandesgerichts
offensichtlich falsch wären und das Landgericht daher keine Abwägung
durchführen könnte, ist entgegen den Ausführungen der
Beschwerdeführerinnen nicht ersichtlich. Im Zivilprozessrecht ist
anerkannt, dass die Prozessparteien kein unbedingtes Recht auf Einsicht
in die beigezogenen Akten anderer Behörden haben. Beschränkt die
übersendende Behörde die Einsicht der Prozessparteien in die übersandte
Akte teilweise oder ganz, hat dies zur Konsequenz, dass der Teil der
übersandten Akte, in die keine Einsicht gewährt werden kann, im
Zivilprozess wegen Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht verwertet werden kann.
Die Vorgabe des Oberlandesgerichts an das Landgericht, vor hier
möglicher Gewährung von Akteneinsicht an die Klägerinnen des
Schadensersatzprozesses eine Abwägung durchführen zu müssen, zwingt
daher zu der einfachrechtlich ermöglichten Berücksichtigung aller
grundrechtlich relevanten Belange.
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