Die geringeren Geldleistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung bei
häuslicher Pflege durch Familienangehörige gegenüber den Geldleistungen
beim Einsatz bezahlter Pflegekräfte verstoßen nicht gegen das
Grundgesetz. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss
entschieden. Weder der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) noch der
Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) erfordert eine Anhebung
des Pflegegeldes auf das Niveau der Pflegesachleistung.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerinnen pflegten zuhause ihren Ehemann und Vater, der
von seiner privaten Pflegeversicherung zuletzt Pflegegeld der
Pflegestufe III bezog. Entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen sah
der private Versicherungsvertrag vor, dass bei gleicher Pflegestufe das
Pflegegeld in geringerer Höhe als der Wert der entsprechenden
Sachleistung gewährt wird. In der maßgeblichen, bis zum 30. Juni 2008
geltenden Fassung betrug das Pflegegeld der Pflegestufe III 665 Euro,
Pflegesachleistungen waren bis zu einem Gesamtwert von 1.432 Euro
erstattungsfähig. Im sozialgerichtlichen Verfahren begehrten die
Beschwerdeführerinnen u. a. den Differenzbetrag zwischen dem Pflegegeld
und der höheren Pflegesachleistung und machten die Verfassungswidrigkeit
der unter¬schiedlichen Höhe beider Leistungen geltend. Die Klage blieb
in allen Instanzen erfolglos.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Es liegt kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6
Abs. 1 GG vor.
a) Als Vergleichsgruppen sind die Pflegebedürftigen zu betrachten, die
sich für die Pflege im häuslichen Bereich bei gleicher Pflegestufe
entweder für die Pflegesachleistung durch externe Pflegekräfte oder für
das demgegenüber reduzierte Pflegegeld entscheiden. Diese Entscheidung
beruht einerseits auf dem freien Willensentschluss der
Pflegebedürftigen, berührt aber auch deren in Art. 6 Abs. 1 GG
geschütztes Recht, die eigenen familiären Verhältnisse selbst zu
gestalten. Die Ungleichbehandlung in der Höhe der gewährten Leistungen
muss daher durch hinreichende Sachgründe zu rechtfertigen sein. Diese
liegen hier vor.
b) Sich für ein System zu entscheiden, das den Pflegebedürftigen die
Wahl lässt zwischen der Pflege in häuslicher Umgebung durch externe
Pflegehilfen oder durch selbst ausgewählte Pflegepersonen, liegt in der
sozialpolitischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber
verfolgt das Ziel, bei Sicherstellung einer sachgerechten Pflege die
Möglichkeit der häuslichen Pflege zu fördern und ihr Vorrang vor
stationärer Unterbringung zu geben. Dafür stellt er zwei
unterschiedliche Leistungsmodelle zur Verfügung: Die häusliche
Pflegehilfe ist eine Sachleistung, bei der die Pflegebedürftigen die
Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch personelle Hilfe
Dritter erhalten. Die Pflegekräfte müssen bei der Pflegekasse selbst
oder bei einer zugelassenen ambulanten Pflegeeinrichtung angestellt sein
oder als Einzelpersonen mit der Pflegekasse einen Vertrag geschlossen
haben. Im Falle des Pflegegeldes hingegen erhalten die Pflegebedürftigen
eine laufende Geldleistung, für die sie die erforderliche Grundpflege
und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst
sicherstellen müssen. Die Pflegepersonen sind dann je nach Wahl
Angehörige des Pflegebedürftigen, ehrenamtliche Pflegepersonen oder mit
dem Pflegegeld „eingekaufte“ professionelle Pflegekräfte, die aber in
keinem Vertragsverhältnis zur Pflegekasse stehen.
c) Das Pflegegeld ist nicht als Entgelt ausgestaltet. Es soll vielmehr
im Sinne einer materiellen Anerkennung einen Anreiz darstellen und
zugleich die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der
Pflegebedürftigen stärken, indem diese das Pflegegeld zur freien
Gestaltung ihrer Pflege einsetzen können. Während der Zweck der
sachgerechten Pflege im Fall der Pflege-sachleistung nur bei
ausreichender Vergütung der Pflegekräfte durch die Pflegekasse
sichergestellt ist, liegt der Konzeption des Pflegegeldes der Gedanke
zugrunde, dass familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege
unentgeltlich erbracht wird. Der Gesetzgeber darf davon ausgehen, dass
die Entscheidung zur familiären Pflege nicht abhängig ist von der Höhe
der Vergütung, die eine professionelle Pflegekraft für diese Leistung
erhält. Die gegenseitige Beistandspflicht von Familienangehörigen
rechtfertigt es, das Pflegegeld in vergleichsweise niedrigerer Höhe zu
gewähren.
d) Der Gesetzgeber hat mit der unterschiedlichen finanziellen
Ausgestaltung entgegen dem Vortrag der Beschwerdeführerinnen weder einen
Anreiz für Familienangehörige geschaffen, sich der familiären Pflege zu
entledigen, noch bestraft er willkürlich den Wunsch Angehöriger zur
familiären Pflege. Zwar ist der Anreiz zur Pflegebereitschaft umso
größer, je mehr der Staat an finanzieller Unterstützung bereitstellt.
Daraus erwächst aber kein Anspruch auf finanzielle Förderung oder auf
Anhebung des Pflegegeldes auf den Wert der Sachleistung. Der Gesetzgeber
darf die Förderung des familiären Zusammenhalts vielmehr auch dadurch
verwirklichen, dass er den Pflegebedürftigen die Wahl zwischen den
verschiedenen Formen der Pflege lässt, und wegen der besonderen
Pflichtenbindung von Familienangehörigen das Pflegegeld lediglich als
materielle Anerkennung vorsieht.
2. Aus Art. 6 Abs. 1 GG ergibt sich nichts anderes. Der Schutz von Ehe
und Familie umschließt zwar auch im Bereich der Sozialversicherung die
Aufgabe, den wirtschaftlichen Zusammenhalt der Familie zu fördern.
Anders als die Beschwerdeführerinnen meinen, geht die Förderungspflicht
des Staates aber nicht so weit, dass es dem Gesetzgeber verwehrt wäre,
für die nichtfamiliäre professionelle Pflege höhere Sachleistungen
bereitzustellen. Ein derartiges Begünstigungsverbot ergibt sich schon
deshalb nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG, weil das niedrigere Pflegegeld nicht
nur die Pflege durch Familienangehörige betrifft. Vielmehr kann die
Pflege auch durch nichtfamiliäre ehrenamtliche oder erwerbsmäßige
Pflegekräfte erbracht werden. Aber auch insoweit die Pflege in erster
Linie durch Angehörige erfolgt, lassen sich aus der Förderungspflicht
der Familie keine konkreten Ansprüche auf bestimmte staatliche
Leistungen herleiten.
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