Die bis 2016 befristete Rechtsverordnung zur Erprobung von „Gigalinern“
ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss
entschieden. Die Rechtsverordnung ist von den Ermächtigungsgrundlagen
des Straßenverkehrsgesetzes gedeckt, konnte ohne Zustimmung des
Bundesrates erlassen werden und genügt den Anforderungen des
Zitiergebots und des Parlamentsvorbehalts.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Am 19. Dezember 2011 erließ das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung - ohne Beteiligung des Bundesrates - die Verordnung
über Ausnahmen von straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften für Fahrzeuge
und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge. Sie bestimmt, dass unter
bestimmten Voraussetzungen Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen im
Güterverkehr länger sein dürfen und das Mitführen von Anhängern weniger
eingeschränkt ist als in den sonst geltenden straßenverkehrsrechtlichen
Regelungen vorgesehen. 214 Abgeordnete der Bundestagsfraktionen von SPD
und Bündnis 90 / Die Grünen (2 BvF 1/12) sowie die Landesregierungen von
Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein (2 BvF 3/12) haben die
Verordnung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zur Prüfung
gestellt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die im Wesentlichen zulässigen Normenkontrollanträge sind unbegründet.
1. Die Vorschriften der Verordnung finden in § 6 Abs. 1 in Verbindung
mit § 6 Abs. 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ausreichende
Ermächtigungsgrundlagen. Dies gilt auch für § 12 der Verordnung, der
bestimmt, dass überlange Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen am
Straßenverkehr nur teilnehmen dürfen, wenn mit ihnen an einer
wissenschaftlichen Untersuchung durch die Bundesanstalt für Straßenwesen
teilgenommen wird. Diese Vorschrift kann auf § 6 Abs. 1 Nr. 3
einleitender Halbsatz in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 5a StVG gestützt
werden. Wesentliches Ziel der Rechtsverordnung ist es, zu untersuchen,
ob durch den Einsatz von Fahrzeugen und Fahrzeugkombinationen mit
Überlänge der Verkehrsträger Straße effizienter genutzt und ob damit ein
Beitrag zur Verminderung von Emissionen geleistet werden kann. Die
Teilnahmepflicht trägt zwar zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf
den öffentlichen Straßen und zum Schutz vor schädlichen
Umwelteinwirkungen nur mittelbar bei, indem sie die Gewinnung von
Erkenntnissen für die Bewertung des Feldversuchs ermöglicht. Dies reicht
jedoch aus.
2. Die Verordnung ist nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie ohne
Zustimmung des Bundesrates erlassen wurde.
a) Zwar bedürfen Rechtsverordnungen zum Straßenverkehrsgesetz
grundsätzlich der Zustimmung des Bundesrates. Dieses
Zustimmungserfordernis steht jedoch nach Art. 80 Abs. 2 GG unter dem
Vorbehalt anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung, kann also durch
Bundesgesetz ausgeschlossen werden. Eine solche anderweitige Regelung
ist § 6 Abs. 3, 2. Variante StVG: Rechtsverordnungen über allgemeine
Ausnahmen von den auf dem Straßenverkehrsgesetz beruhenden
Rechtsvorschriften bedürfen danach nicht der Zustimmung des Bundesrates;
stattdessen sind vor ihrem Erlass die zuständigen obersten
Landesbehörden zu hören. Um eine solche Rechtsverordnung handelt es sich
hier.
b) Die Regelungen der Verordnung sind durch den in § 6 Abs. 3, 2.
Variante StVG verwendeten Begriff der „Ausnahme“ gedeckt. Art und Anzahl
der in der Verordnung enthaltenen ausgestaltenden Bestimmungen stehen
dem nicht entgegen. Der Einwand, an einer großen Zahl von
„Nebenbestimmungen“ zeige sich, dass es sich nicht mehr um eine
Ausnahme, sondern um ein Sonderregime handle, greift nicht durch. Eine
Grenze für die Zulässigkeit nebenbestimmungsäquivalenter Bestimmungen
ist allerdings erreicht, wenn eine Verordnung über Bestimmungen hinaus,
die eine Ausnahme ausgestalten, selbstständige, hiervon unabhängige
Regelungen enthält. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
c) Es handelt sich auch um eine Rechtsverordnung über „allgemeine“
Ausnahmen. Es werden für eine unbekannte Vielzahl von Fällen Regelungen
getroffen, die an einen unbestimmten Personenkreis gerichtet sind. 3.
Die Verordnung verstößt nicht gegen das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1
Satz 3 GG. Sie nennt die Ermächtigungen, auf die der Verordnungsgeber
sich stützen wollte und auf die die erlassenen Bestimmungen sich stützen
lassen. Auf die Frage, ob einzelne der herangezogenen Vorschriften
ungeeignet sind, irgendeine der Verordnungsbestimmungen zu tragen, kommt
es nicht an. Ein Zitierungsüberschuss in diesem Sinne wäre, jedenfalls
wenn er wie hier allenfalls in geringem Umfang zu verzeichnen ist,
unschädlich.
4. Die Verordnung verstößt schließlich nicht gegen den
Parlamentsvorbehalt. Zwar müssen in grundlegenden normativen Bereichen,
insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, die wesentlichen
Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden. Der Parlamentsvorbehalt
verlangt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber selbst über die Abmessungen
der am Straßenverkehr teilnehmenden Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen
entscheidet. In Anbetracht des technischen Fortschritts und damit
einhergehender schneller Veränderungen von Gefahrenlagen und
Möglichkeiten ihrer Vermeidung ist die Einschätzung des Gesetzgebers
nachvollziehbar, dass der Verordnungsgeber eher in der Lage ist, die
Anforderungen auf dem aktuellen Stand zu halten und damit allen
berührten grundrechtlichen Interessen Rechnung zu tragen. Steht danach
der Parlamentsvorbehalt selbst einer dauerhaften Änderung der zulässigen
Längenmaße durch den Verordnungsgeber nicht entgegen, kann ein Verstoß
auch nicht darin liegen, dass zunächst nur versuchsweise eine befristete
Regelung getroffen wurde.
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