Die Vorschriften des Niedersächsischen Hochschulgesetzes über die
Organisation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) sind in
wesentlichen Teilen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies hat der
Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem
Beschluss entschieden. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fordert eine Mitwirkung
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an allen
wissenschaftsrelevanten Entscheidungen. Das gilt auch für medizinische
Hochschulen und hierzu gehören nicht nur Entscheidungen über Forschung
und Lehre, sondern auch Entscheidungen über die Organisationsstruktur,
den Haushalt und - weil in der Hochschulmedizin mit der Wissenschaft
untrennbar verzahnt - über die Krankenversorgung. Werden
wissenschaftsrelevante Entscheidungsbefugnisse auf einen Vorstand
übertragen, muss eine hinreichende Mitwirkung des Senats an diesen
Entscheidungen sowie an der Bestellung und Abberufung des Vorstands
gegeben sein. Der Landesgesetzgeber hat bis zum 31. Dezember 2015 eine
Neuregelung zu schaffen.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer ist Hochschullehrer und Mitglied des Senats der
MHH. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet er sich dagegen, dass der
Gesetzgeber wichtige Entscheidungsbefugnisse innerhalb der MHH vom Senat
auf einen dreiköpfigen Vorstand übertragen hat. Angegriffen wurden die
hochschulrechtlichen Regelungen über die Bestellung, Neubestellung und
Entlassung des Vorstands nach § 63c Abs. 1 bis 6 sowie über bestimmte
Befugnisse des Vorstands nach § 63e des Niedersächsischen
Hochschulgesetzes.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) verpflichtet den
Staat, für einen funktionsfähigen universitären Wissenschaftsbetrieb zu
sorgen. Er muss durch geeignete organisatorische Maßnahmen
sicherstellen, dass das individuelle Grundrecht auf freie
wissenschaftliche Betätigung so weit unangetastet bleibt, wie das unter
Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der
Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen
Beteiligten möglich ist. Der Gesetzgeber verfügt hier über einen weiten
Gestaltungsspielraum; er ist nicht an überkommene Modelle der
Hochschulorganisation gebunden. Mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sind
Organisationsnormen allerdings nicht vereinbar, wenn durch sie ein
Gesamtgefüge geschaffen wird, das die freie wissenschaftliche Betätigung
und Aufgabenerfüllung strukturell gefährdet.
Die grundrechtlich garantierte hinreichende Mitwirkung von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einer Hochschule erstreckt
sich auf alle wissenschaftsrelevanten Entscheidungen. Dies sind nicht
nur Entscheidungen über Forschungsvorhaben oder Lehrangebote, sondern
auch über die Planung der weiteren Entwicklung einer Einrichtung und
über die Ordnungen, die in der Organisation gelten sollen.
Wissenschaftsrelevant sind auch Entscheidungen über die
Organisationsstruktur und den Haushalt, da andernfalls das Grundrecht
auf Wissenschaftsfreiheit leerzulaufen drohte. Soweit die
wissenschaftliche Tätigkeit mit der Erfüllung anderer Aufgaben wie der
Krankenversorgung untrennbar verzahnt ist, sind auch Entscheidungen
darüber wissenschaftsrelevant.
Der Gesetzgeber darf die Art und Weise der Mitwirkung im
wissenschaftsorganisatorischen Gesamtgefüge frei gestalten, solange die
wissenschaftlich Tätigen an wissenschaftsrelevanten Entscheidungen
hinreichend mitwirken können. Für die Selbstorganisation der
Wissenschaft sind plural zusammengesetzte Vertretungsorgane von
zentraler Bedeutung. Daraus folgt zwar kein grundsätzlicher Vorrang
solcher Organe gegenüber Leitungsorganen. Die Zuweisung von
Entscheidungsbefugnissen an Leitungsorgane darf jedoch nur in dem Maße
erfolgen, wie sie inhaltlich begrenzt und organisatorisch so abgesichert
sind, dass eine strukturelle Gefährdung der Wissenschaft ausscheidet. Je
mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante
personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem kollegialen
Selbstverwaltungsorgan entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen
werden, desto stärker muss im Gegenzug die Mitwirkung des
Selbstverwaltungsorgans an der Bestellung und Abberufung dieses
Leitungsorgans und an dessen Entscheidungen ausgestaltet sein. Der
Gesetzgeber muss diesen Zusammenhang durchgängig berücksichtigen.
Zugleich hat der Staat eine Verantwortung für die Krankenversorgung, die
in der Hochschulmedizin eng mit Forschung und Lehre verzahnt ist. Der
Gesetzgeber muss einerseits die Wissenschaftsfreiheit achten,
andererseits eine bestmögliche Krankenversorgung gewährleisten, denn er
hat verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art.
20 Abs. 1 GG anerkannte Rechtsgüter von großer Bedeutung zu schützen.
2. Die Regelungen des niedersächsischen Hochschulgesetzes zur
Ausgestaltung der Leitung der MHH genügen diesen verfassungsrechtlichen
Anforderungen in wesentlichen Aspekten nicht.
a) Durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet im
organisatorischen Gesamtgefüge, dass weichenstellende Entscheidungen
über die Entwicklung, die Organisation und die Ressourcen für Forschung
und Lehre im Wesentlichen dem Vorstand zugewiesen und dem Senat entzogen
sind.
aa) Im Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Gesetzgebers, die Leitung
einer wissenschaftlichen Hochschule auf einen dreiköpfigen Vorstand zu
übertragen, verfassungsrechtlich allerdings nicht zu beanstanden. Das
Grundgesetz enthält keine hochschulpolitische Vorgabe für ein bestimmtes
Leitungsmodell.
bb) Eine hinreichende Mitwirkung des Senats an grundlegenden
wissenschaftsrelevanten Entscheidungen ist allerdings tatsächlich nicht
gesichert. Dem Senat ist zwar die Befugnis zur Entscheidung über die
Grundzüge der Entwicklungsplanung zugewiesen. Tatsächlich ist an der MHH
jedoch seit 2005 keine Entwicklungsplanung erfolgt. Grundlegende Fragen
werden nur im Rahmen der Zielvereinbarung mit dem Fachministerium
entschieden, worüber der Vorstand entscheidet und wozu der Senat
lediglich Stellung nehmen kann. Die Gesamtregelung ist insofern
defizitär, als sie offensichtlich ermöglicht, Gestaltungsrechte des
Senats zu unterlaufen; die fehlende Mitwirkung von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern kann insoweit auch nicht durch deren Einfluss auf
die Bestellung und Abberufung des Leitungsorgans kompensiert werden.
cc) Es fehlt eine ausschlaggebende Beteiligung des Senats mit seinem
gefächerten Sachverstand an Entscheidungen über die Organisation der
MHH. Diese sind ebenfalls dem Vorstand zugewiesen, in dem die
Vorstandsmitglieder für Forschung und Lehre sowie für Wirtschaftsführung
und Administration jeweils Vetorechte haben; der Vorstand muss sich mit
dem Senat lediglich ins Benehmen setzen. Da Organisationsentscheidungen
auch für die Wissenschaft Weichen stellen, ist eine im Gesamtgefüge
derart begrenzte Mitwirkungsmöglichkeit mit den Anforderungen des Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG nicht vereinbar.
dd) Eine strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit kann aus den
nicht hinreichenden Mitwirkungsbefugnissen des Senats an den
Entscheidungen des Vorstands über den Wirtschaftsplan, die Aufteilung
der Sach-, Investitions- und Personalmittel auf die
Organisationseinheiten und die Bereitstellung von Mitteln für zentrale
Fonds für Lehre und für Forschung resultieren. Grundlegende ökonomische
Entscheidungen wie diejenige über den Wirtschaftsplan einer Hochschule
sind wissenschaftsrelevant, weil Forschung und Lehre auf die Ausstattung
mit Ressourcen angewiesen sind. Im Rahmen seines Gestaltungsspielraums
ist der Gesetzgeber zwar nicht gezwungen, die Wissenschaftsfreiheit
allein durch die Ausgestaltung von Mitwirkungsrechten zu sichern. Doch
fehlen in Niedersachsen auch haushaltsrechtliche Regelungen, die zum
Schutz der Wissenschaftsfreiheit beitragen könnten, indem sie
beispielsweise den Gefahren der internen Quersubventionierung der
Krankenversorgung aus Mitteln für Forschung und Lehre mit Hilfe einer
verbindlichen Trennungsrechnung zu begegnen suchen.
b) Die Entscheidungsbefugnisse des Vorstandsmitglieds für Forschung und
Lehre stoßen in der hier gewählten Ausgestaltung auf durchgreifende
Bedenken. Zwar trägt es zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit bei, wenn
in einem mehrköpfigen Vorstand eines Universitätsklinikums eine eigene
Zuständigkeit für Forschung und Lehre geschaffen wird, sofern der Senat
auf die Berufung und Abbestellung dieses Vorstandsmitglieds wesentlichen
Einfluss hat. Dies kann die Mitwirkung des Senats als Vertretungsorgan
der akademischen Selbstverwaltung an derartigen Entscheidungen
allerdings nicht vollständig ersetzen.
c) Die strukturellen Gefahren für die Wissenschaftsfreiheit werden im
hier maßgeblichen Gesamtgefüge nicht durch die Regelungen über die
Findung, Bestellung, Wiederbestellung und Entlassung des Vorstands
kompensiert.
aa) Die Möglichkeit des Senats, zum Vorschlag für das Vorstandsmitglied
für Wirtschaftsführung und Administration nur Stellung zu nehmen, stößt
auf durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken, denn dieses
Vorstandsmitglied ist sowohl der Krankenversorgung als auch der
Wissenschaft verpflichtet, und Haushaltsentscheidungen sind regelmäßig
auch Entscheidungen über die tatsächliche Möglichkeit, medizinische
Forschung und Lehre zu betreiben.
bb) Das Recht des Fachministeriums zur Bestellung der vorgeschlagenen
Vorstandsmitglieder darf diesem nicht die Möglichkeit eröffnen, die
Bestellung beliebig nach Maßstäben einer eigenen Personalpolitik zu
versagen. Dem Staat steht insoweit kein freies politisches Ermessen zu.
Insbesondere darf die Bestellung des Vorstandsmitglieds für Forschung
und Lehre nur versagt werden, wenn rechtlich mit Blick auf die
Wissenschaftsfreiheit tragfähige Gründe vorliegen.
cc) Es begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken, der
Bestellung der Vorstandsmitglieder ein Findungsverfahren vorzuschalten,
in dem eine Mitwirkung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
nicht hinreichend gesichert ist. Eine Findungskommission kann
entscheidend filtern, wer überhaupt als Vorstandsmitglied in Betracht
gezogen wird. Daher muss die Mitwirkung des Senats im hier zu
beurteilenden Gesamtgefüge gewichtig sein, um Gefährdungen der
Wissenschaftsfreiheit auszuschließen.
dd) Die Regelungen zur Wiederbestellung oder Verlängerung der Amtszeit
einer Hochschulleitung unterliegen im Ausgangspunkt denselben
Anforderungen an die Mitwirkung des Vertretungsorgans akademischer
Selbstverwaltung, doch darf der Gesetzgeber hier berücksichtigen, ob das
Organ an der erstmaligen Bestellung mitgewirkt hat.
ee) Bei der Entlassung von Vorstandsmitgliedern ist es
verfassungsrechtlich zwar unbedenklich, wenn der Staat einen
entsprechenden Beschluss der Hochschule nochmals bestätigen muss. Doch
darf ein solches Aufsichtsrecht des Staates die Selbstbestimmungsrechte
der Grundrechtsträger nicht konterkarieren. Verfassungsrechtlich
bedenklich ist es daher, wenn dem Fachministerium ein Ermessen zusteht.
Auf erhebliche Bedenken stößt es, wenn eine Entlassung an eine
qualifizierte Mehrheit gebunden wird, die von den Wissenschaftlern und
Wissenschaftlerinnen allein nicht erreicht werden kann, und wenn die
Entlassung überdies an eng gefasste sachliche Voraussetzungen geknüpft
wird. Zwar ist es zum Schutz der Betroffenen auch geboten, eine
Entlassungsentscheidung an sachliche Kriterien zu binden. Zur Wahrung
der Wissenschaftsfreiheit muss dies jedoch so verstanden werden, dass
ein wichtiger Entlassungsgrund gegeben ist, wenn die erforderliche
Mehrheit im Vertretungsorgan für die Abbestellung votiert, denn dies
indiziert, dass ein Leitungsorgan das Vertrauen der Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler verloren hat.
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