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Bundesverfassungsgericht - Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 78/2014 vom 17. September 2014
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Auch die „Negativmitteilung“, dass keine Gespräche über eine Verständigung stattgefunden haben, ist zu Beginn der Hauptverhandlung erforderlich
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Im Strafverfahren hat das Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung
mitzuteilen, ob Gespräche über die Möglichkeit einer Verständigung
stattgefunden haben. Auch eine Negativmitteilung, dass keine solchen
Gespräche stattgefunden haben, ist erforderlich. Dies hat die 2. Kammer
des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute
veröffentlichten Beschlüssen entschieden. Zwei Revisionsentscheidungen
des Bundesgerichtshofs hat die Kammer aufgehoben, da ihnen eine
Auslegung der Strafprozessordnung zugrunde liegt, die unter keinem
denkbaren Aspekt rechtlich haltbar ist.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Dem Verfahren 2 BvR 2172/13 liegt ein Urteil des Landgerichts
Braunschweig vom 23. Januar 2013 zugrunde, mit dem der Beschwerdeführer
zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten verurteilt wurde. Im
Verfahren 2 BvR 2400/13 wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht
Potsdam am 14. Dezember 2012 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren
verurteilt. In beiden Fällen legten die Beschwerdeführer Revision ein
und rügten unter anderem einen Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 der
Strafprozessordnung (StPO), weil das Landgericht es unterlassen habe, in
öffentlicher Sitzung mitzuteilen, ob und ggf. welche Vorgespräche
zwischen den Verfahrensbeteiligten geführt wurden. Der Bundesgerichtshof
verwarf beide Revisionen durch Beschlüsse vom 22. August 2013 und 17.
September 2013 als unbegründet.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Revisionsentscheidungen verstoßen gegen das verfassungsrechtliche
Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG).
1. Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der
Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots kommt nur in
Ausnahmefällen in Betracht. Willkürlich ist ein Richterspruch erst dann,
wenn Rechtsanwendung oder Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr
rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die
Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht. Dabei enthält die
Feststellung von Willkür keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist
vielmehr in einem objektiven Sinne zu verstehen.
2. Den Revisionsentscheidungen liegt eine Auslegung des § 243 Abs. 4
Satz 1 StPO zugrunde, nach der eine Mitteilungspflicht nicht bestehe,
wenn keine auf eine Verständigung hinzielenden Gespräche stattgefunden
haben. Diese Auslegung verstößt in unvertretbarer und damit objektiv
willkürlicher Weise gegen den eindeutigen objektivierten Willen des
Gesetzgebers, wie er auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
19. März 2013 herausgearbeitet wurde.
a) § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO lautet: „Der Vorsitzende teilt mit, ob
Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren
Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und
wenn ja, deren wesentlichen Inhalt.“ Der Wortlaut der sprachlich wenig
geglückten Norm erscheint zwar auf den ersten Blick mehrdeutig
(einerseits „ob“, andererseits „wenn“). Er lässt aber durch die weitere
Formulierung „und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt“ auf das Bestehen
einer Mitteilungspflicht auch für den Fall schließen, dass keine
Verständigungsgespräche stattgefunden haben (sog.
Negativmitteilungspflicht), weil es des Zusatzes „und wenn ja“ ansonsten
nicht bedurft hätte. Da der Gesetzeswortlaut selbst bei einer Ersetzung
des „ob“ durch ein „dass“ unverständlich bliebe, ist nicht das „ob“,
sondern das „wenn“ als Redaktionsversehen einzuordnen.
b) Die Gesetzessystematik spricht ebenfalls für eine
Negativmitteilungspflicht. Wenn in § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO von
„Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung“ die
Rede ist, so lässt dies allein den Schluss zu, dass zu Beginn der
Hauptverhandlung in jedem Fall eine Mitteilung - sei es positiv oder
negativ - zu erfolgen hat. Eine klare Bestätigung dieser Sichtweise
findet sich in § 78 Abs. 2 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG),
wonach die Mitteilungspflicht im Bußgeldverfahren nur gilt, wenn eine
Erörterung stattgefunden hat. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss
eindeutig, dass im „normalen“ Strafprozess eine Mitteilungspflicht auch
dann besteht, wenn keine Erörterung stattgefunden hat.
c) Auch die Materialien zum Verständigungsgesetz belegen eindeutig, dass
der Gesetzgeber für den „normalen“ Strafprozess eine
Negativmitteilungspflicht einführen wollte. Der Bundesrat ist der
Einführung einer Negativmitteilungspflicht in seiner Stellungnahme zum
Regierungsentwurf entgegengetreten und hat deswegen eine abweichende
Fassung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgeschlagen. Diese ist jedoch
nicht Gesetz geworden. Es blieb vielmehr bei der im Regierungsentwurf
vorgesehenen Fassung.
d) Sinn und Zweck des dem Verständigungsgesetz zugrunde liegenden
Regelungskonzepts, das umfassende Transparenz in Bezug auf
Verständigungen im Strafprozess vorsieht, sprechen ebenfalls für eine
Negativmitteilungspflicht.
e) Auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts legt die
Vorschrift des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO dahingehend aus, dass sie eine
Negativmitteilungspflicht beinhaltet (vgl. Urteil vom 19. März 2013, Rn.
98).
3. Von einem Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf einer
Grundrechtsverletzung ist bereits dann auszugehen, wenn sich nicht
ausschließen lässt, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung
des verletzten Grundrechts zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Welche Darlegungsanforderungen der Bundesgerichtshof - bei Bejahung
einer Negativmitteilungspflicht - an den Vortrag des Revisionsführers
gestellt hätte und ob er die diesbezügliche Verfahrensrüge hiernach für
zulässig erachtet hätte, ist zunächst eine Frage des einfachen Rechts,
die nicht durch das Bundesverfassungsgericht zu beurteilen ist.
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