Die im Jahr 2010 eingeführten Regelungen zur Rechtsstellung der
sogenannten Optionskommunen sind im Wesentlichen verfassungsgemäß. Dies
hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem
Urteil entschieden. Mit Art. 91e GG hat der verfassungsändernde
Gesetzgeber eine umfassende Sonderregelung für den Bereich der
Grundsicherung für Arbeitssuchende geschaffen. Er hat unmittelbare
Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Optionskommunen begründet
und in diesem Rahmen auch eine Finanzkontrolle ermöglicht. Darüber
hinaus enthält Art. 91e GG einen umfassenden Gesetzgebungsauftrag
zugunsten des Bundes. Er kann das Zulassungsverfahren weitgehend frei
ausgestalten. Jedoch fehlt dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für eine
Regelung, die die interne Willensbildung der Kommunen für einen
Zulassungsantrag an eine Zwei-Drittel-Mehrheit bindet. Die entsprechende
Vorschrift darf ab sofort nicht mehr angewendet werden; bestehende
Zulassungen bleiben jedoch in Kraft.
Sachverhalt:
Die von 15 Landkreisen und einer Stadt erhobenen
Kommunalverfassungsbeschwerden betreffen die rechtliche Stellung der
sogenannten Optionskommunen nach der Neuregelung des Jahres 2010. Über
Einzelheiten informiert die Pressemitteilung Nr. 64/2013 vom 24. Oktober
2013.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Verfassungsbeschwerden sind im Wesentlichen zulässig. Jedoch ist
die Jahresfrist nicht eingehalten, soweit sich eine der
Verfassungsbeschwerden gegen die Prüfungsbefugnisse des
Bundesrechnungshofs richtet. Die maßgebliche Vorschrift (§ 6b Abs. 3
Sozialgesetzbuch II - SGB II) ist bereits seit 2004 unverändert in
Kraft.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II, der den
Antrag auf Zulassung als Optionskommune an eine Zwei-Drittel-Mehrheit im
zuständigen kommunalen Gremium bindet, ist begründet. Im Übrigen sind
die Verfassungsbeschwerden unbegründet.
a) aa) Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit Art. 91e GG für das
Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine umfassende
Sonderregelung geschaffen. Er hat auf ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 reagiert, das die
Zusammenarbeit von Arbeitsagenturen und Kommunen in gemeinsamen
Einrichtungen für verfassungswidrig erklärt hatte. Mit der Neuregelung
sollte der im politischen Raum für praktikabel befundene Zustand
aufrechterhalten und verfassungsrechtlich abgesichert werden.
Zwar durchbricht Art. 91e Abs. 1 GG das grundsätzliche Verbot der
Mischverwaltung, das vom Bundesverfassungsgericht auch mit dem Argument
des Demokratieprinzips untermauert worden ist. Denn eine Verflechtung
von Verwaltungszuständigkeiten kann dazu führen, dass der Auftrag des
Wählers auf Bundes- oder Landesebene durch die Mitwirkung anderer Ebenen
relativiert und konterkariert wird. Auch das Rechtsstaatsprinzip
verlangt im Interesse des effektiven Rechtsschutzes eine klare Zuordnung
von Kompetenzen. Ein absolutes Verbot der Mischverwaltung lässt sich
jedoch weder aus dem Demokratie- noch aus dem Rechtsstaatsprinzip
ableiten; daher verstößt Art. 91e GG nicht gegen die „Ewigkeitsgarantie“
des Art. 79 Abs. 3 GG.
In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art. 91e GG die allgemeinen
Regelungen über den Vollzug von Bundesgesetzen (Art. 83 ff. GG) und über
die Finanzierung von Verwaltungsaufgaben (Art. 104a GG). Der
verfassungsändernde Gesetzgeber wollte offenkundig keine Regelung
schaffen, die sich möglichst schonend in die allgemeinen Strukturen
einfügt, sondern eine umfassende Absicherung der Verwaltungspraxis
ermöglichen. Das zeigt auch die Regelung zur Kostentragung (Art. 91e
Abs. 2 Satz 2 GG), die zu einer direkten Finanzierung kommunalen
Verwaltungshandelns durch den Bund führt.
bb) Art. 91e Abs. 2 GG begründet unmittelbare Verwaltungs- und
Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Optionskommunen. Die
Gemeinden sind jedoch grundsätzlich den Ländern zugeordnet. Daher
durchbricht die Vorschrift, wenn auch nur punktuell, die Zweistufigkeit
des Staatsaufbaus. Art. 91e Abs. 2 GG ermöglicht dem Bund eine effektive
Finanzkontrolle, die sich von der staatlichen Aufsicht wie auch von den
Befugnissen des Bundesrechnungshofs unterscheidet.
cc) Art. 91e Abs. 2 GG räumt den Gemeinden und Gemeindeverbänden eine
Chance ein, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als
kommunale Träger alleinverantwortlich wahrzunehmen. Wie bereits aus der
Formulierung deutlich wird, dass der Bund eine begrenzte Anzahl von
Gemeinden und Gemeindeverbänden zulassen „kann“, wird damit kein
Anspruch begründet. Eröffnet der Gesetzgeber den Gemeinden und
Gemeindeverbänden diese Chance jedoch, so ist er bei deren Ausgestaltung
grundsätzlich frei. Das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verbietet
es allerdings, einzelne Gemeinden oder Gemeindeverbände aufgrund
sachlich nicht vertretbarer Differenzierungen zu benachteiligen oder zu
bevorzugen.
dd) Die Wahrnehmung der Chance auf Zulassung als Optionskommune fällt in
den Schutzbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs.
2 GG). Gemeinden und Gemeindeverbände können sich gegenüber dem Staat
auf das interkommunale Gleichbehandlungsgebot berufen und seine
Verletzung vor dem Bundesverfassungsgericht rügen.
ee) Art. 91e Abs. 3 GG enthält einen umfassenden und weit zu
verstehenden Gesetzgebungsauftrag zugunsten des Bundes für alle
Rechtsverhältnisse, die mit der Zulassung von Optionskommunen verbunden
sind.
b) Die Verfassungsbeschwerde gegen § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II ist
begründet.
aa) Mit der Kommunalverfassungsbeschwerde kann gerügt werden, dass ein
Bundesgesetz gegen die Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 70 GG)
verstößt, denn die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen ist für das
verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitbestimmend.
bb) § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II bestimmt, dass der Antrag auf Zulassung
als Optionskommune einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder in
der zuständigen Vertretungskörperschaft bedarf. Die Vorschrift verkürzt
damit die Organisationshoheit der Gemeinden und greift dadurch in die
kommunale Selbstverwaltungsgarantie ein. Verglichen mit den allgemeinen
Regelungen des Kommunalrechts erschwert sie die Willensbildung in den
Stadträten und Kreistagen. Im Fall des beschwerdeführenden Landkreises
Roth kam eine Realisierung der gesetzlich eröffneten Chance daher schon
deshalb nicht in Betracht, weil sich nur 36 von 60 Mitgliedern für den
Antrag ausgesprochen hatten.
cc) § 6a Abs. 2 Satz 3 SGB II verletzt die Gesetzgebungszuständigkeit
der Länder. Die interne Willensbildung in den Kommunen und das
Zusammenwirken zwischen ihren Organen ist Teil des Kommunalrechts. Wäre
dies anders, könnte der Bund in allen Bereichen, in denen er eine
Gesetzgebungskompetenz besitzt, auch Vorgaben zur Willensbildung
erlassen; die den Ländern zustehende Gesetzgebungskompetenz für das
Kommunalrecht liefe insoweit leer.
Auch die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die
öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) vermag die angegriffene
Regelung nicht zu stützen. Zwar ist der Begriff „öffentliche Fürsorge“
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weit auszulegen
und erfasst auch organisatorische Vorschriften. Die hier angegriffene
Vorschrift regelt jedoch keine organisatorische Frage bei der Erbringung
sozialrechtlicher Leistungen, sondern die Art und Weise der
Willensbildung in den Kommunen.
Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich auch nicht aus Art.
91e Abs. 3 GG. Auf dieser Grundlage kann der Gesetzgeber zwar die
Voraussetzungen für die Zulassung von Optionskommunen regeln,
insbesondere deren Anzahl sowie die Zulassungskriterien. Die
angegriffene Vorschrift betrifft jedoch nicht die Rechtsverhältnisse
zwischen der antragstellenden Kommune und dem Bund oder dem Land,
sondern die interne Organisation der Kommunen.
dd) § 6a Abs. 2 Satz 3 1. Halbsatz SGB II ist für unvereinbar mit dem
Grundgesetz zu erklären. Die Vorschrift gilt für bestehende Zulassungen
fort. Allerdings darf sie in neuen Zulassungsverfahren nicht mehr
angewandt werden. Würde die Vorschrift für nichtig erklärt, könnten die
zugelassenen Optionskommunen ihre Aufgaben ab sofort nicht mehr
einheitlich wahrnehmen. Hiervon wären eine hohe Zahl von
Leistungsempfängern und die Mitarbeiter der Kommunen betroffen. Ohne die
Aufrechterhaltung der Regelung für die Vergangenheit wäre es daher nicht
möglich, eine geordnete Sozialverwaltung sicherzustellen.
c) Gegen § 6a Abs. 2 Satz 4 SGB II, der die Anzahl der Optionskommunen
auf höchstens 25 % der zum 31. Dezember 2010 bestehenden Aufgabenträger
festlegt, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
aa) Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 91e Abs.
3 GG. Inhaltlich geben Art. 91e Abs. 1 und Abs. 2 GG ein
Regel-Ausnahme-Verhältnis vor: Die Aufgabenwahrnehmung in gemeinsamen
Einrichtungen soll danach die Regel sein, die alleinige
Aufgabenwahrnehmung durch Optionskommunen die Ausnahme. Dies belegen der
Wortlaut des Art. 91e Abs. 2 GG, seine systematische Stellung und seine
Entstehungsgeschichte. Im Übrigen verfügt der Gesetzgeber jedoch über
einen weiten Gestaltungsspielraum.
bb) Aus dem Wortlaut des Art. 91e Abs. 2 GG lässt sich namentlich keine
konkrete Anzahl möglicher Optionskommunen ableiten. Mit der Festlegung
auf 25 % hat der Gesetzgeber lediglich die im Rahmen der
Verfassungsänderung avisierte Zielgröße übernommen und den politischen
Erwartungen der Beteiligten Rechnung getragen. Verfassungsrechtlich
verpflichtet war er dazu nicht.
cc) § 6a Abs. 2 Satz 4 SGB II bedarf auch keiner verfassungskonformen
Auslegung im Lichte von Art. 28 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG. Die
Grundsicherung für Arbeitsuchende ist keine Aufgabe der örtlichen
Gemeinschaft, die der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden (Art. 28
Abs. 2 Satz 1 GG) unterfiele. Es handelt sich vielmehr um eine Aufgabe,
die normalerweise bundeseinheitlich von der Bundesagentur für Arbeit
wahrgenommen wird. Auch die Selbstverwaltungsgarantie der
Gemeindeverbände (Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG), die von vornherein nur nach
Maßgabe der Gesetze besteht, wird nicht verletzt. Die Zuweisung einer
neuen Aufgabe könnte nur verlangt werden, wenn sonst die
Selbstverwaltungsgarantie in ihrem Kern entwertet wäre, was
offensichtlich nicht der Fall ist.
dd) Eröffnet der Gesetzgeber den Kommunen die Chance auf eine bestimmte
Aufgabenzuständigkeit, so muss er ein Verfahren vorsehen, das eine
transparente und nachvollziehbare Verteilungs- und
Zulassungsentscheidung sicherstellt. Der Gesetzgeber musste dieses
Verfahren in seinen wesentlichen Grundzügen selbst ausgestalten (vgl.
Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG); die Einzelheiten durfte er dem
Verordnungsgeber überlassen. § 6a Abs. 3 SGB II ist insoweit eine
hinreichende Rechtsgrundlage.
Ob das in der Kommunalträger-Eignungsfeststellungsverordnung (KtEfV)
geregelte Verteilungsverfahren selbst den Anforderungen an ein
willkürfreies, transparentes und nachvollziehbares Zulassungsverfahren
genügt, ob es insbesondere nicht bundesrechtlicher Regelungen über die
Verteilung der möglichen Optionskommunen auf die Länderkontingente
bedarf, ist hier nicht zu entscheiden. Denn die insoweit möglicherweise
unzureichende Verordnung ist nicht Gegenstand des vorliegenden
Verfahrens.
d) Schließlich begegnet § 6b Abs. 4 SGB II, der die Finanzkontrolle
durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales regelt, keinen
durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die
Gesetzgebungskompetenz für diese Vorschrift folgt ebenfalls aus Art. 91e
Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 GG. Die damit verbundenen
Befugnisse des Bundes unterscheiden sich von denen des
Bundesrechnungshofes und beschränken sich auf die fiskalischen
Interessen des Bundes. Ihm ist insbesondere gestattet,
öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche geltend zu machen und im Wege
der Verrechnung durchzusetzen. Eine Rechts- oder Fachaufsicht ist damit
nicht verbunden; die dem Bund eröffnete Finanzkontrolle richtet sich
nicht allgemein auf die Gewährleistung eines einheitlichen
Gesetzesvollzugs und erlaubt es daher nicht, vertretbare
Rechtsauffassungen des zugelassenen kommunalen Trägers zu beanstanden.
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