Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit
heute veröffentlichtem Beschluss eine Entscheidung des
Oberlandesgerichts Naumburg aufgehoben, mit der es einen Antrag des
Beschwerdeführers auf Rehabilitierung wegen seiner Unterbringung in
Kinderheimen der ehemaligen DDR abgelehnt hatte. Das Oberlandesgericht
ist seiner Amtsermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen und hat
damit das Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz
verletzt. Zudem hat das Oberlandesgericht seiner Entscheidung eine
willkürliche Auslegung des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
zugrunde gelegt, die eine Anwendung des Gesetzes auf die
Heimunterbringung von Kindern im Ergebnis ausschließt.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer beantragte im Dezember 2006 seine Rehabilitierung
wegen der Unterbringung in Kinderheimen der ehemaligen DDR in den Jahren
1961 bis 1966 und 1967 bis 1970. Mit Beschluss vom 21. Dezember 2007
wies das Landgericht Magdeburg den Antrag zurück. Es sei nicht
ersichtlich, dass die Einweisung des Beschwerdeführers in ein Kinderheim
unter Zugrundelegung des Standes der pädagogischen Wissenschaften im
Jahr 1961 mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen
rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sei. Die dies bestätigende
Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg hob das
Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13. Mai 2009 2 BvR 718/08 auf
und verwies die Sache zurück. Mit Beschluss vom 22. Oktober 2010 hob das
Oberlandesgericht den Beschluss des Landgerichts vom 21. Dezember 2007
auf, soweit darin über Heimeinweisungen des Beschwerdeführers nach 1966
entschieden wurde, und verwarf den Rehabilitierungsantrag in diesem
Umfang als unzulässig. Die weitergehende Beschwerde verwarf es - erneut
- als unbegründet.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2010
verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG und gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 3 GG. Er ist aufzuheben und die Sache an das
Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
1. Ein Richterspruch verstößt dann gegen den allgemeinen
Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Verbot
objektiver Willkür, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich
vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf
sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien
festzustellen. Fehlerhafte Rechtsanwendung macht eine
Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich. Schlechterdings
unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann,
wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der
Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht
mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird.
a) Soweit das Oberlandesgericht den Rehabilitierungsantrag teilweise -
hinsichtlich der Heim-aufenthalte in den Jahren 1967 bis 1970 - als
unzulässig verworfen hat, ist dies der Fall. Das Oberlandesgericht hat
den offensichtlich einschlägigen § 7 Abs. 2 des strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG) bei seiner Entscheidung nicht
berücksichtigt. Nach § 7 Abs. 2 StrRehaG kann der Antrag bei jedem
Gericht schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle gestellt
werden. Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit erfolgt von Amts wegen.
Ein unzuständiges Gericht hat die Sache an das örtlich und sachlich
zuständige Gericht abzugeben. Die Verwerfung des Antrags als unzulässig
mangels eigener örtlicher Zuständigkeit ist nicht vorgesehen.
b) Auch die Annahme des Oberlandesgerichts, die Heimaufenthalte des
Beschwerdeführers in den Jahren 1961 bis 1966 hätten keine
Freiheitsentziehung im Sinne des strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetzes dargestellt, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers, das das Oberlandesgericht
seiner Entscheidung zugrunde legt, durfte der Beschwerdeführer das
jeweilige Heim oder den Aufenthaltsort seiner jeweiligen Heimgruppe
nicht verlassen und stand unter der ständigen Aufsicht der Erzieher.
Seine Außenkontakte waren erheblich eingeschränkt. Er war durch die
gegen den Willen seiner Mutter erfolgte Unterbringung in einem Heim
außerhalb des Elternhauses und die verwehrten Kontakte zu der Mutter
Beschränkungen unterworfen, mit denen bei Kindern in dem Alter des
Beschwerdeführers erhebliche psychische Beeinträchtigungen verbunden
sind. Er hatte zudem keinerlei individuelle Rückzugsmöglichkeiten und
Intimsphäre sowie keinerlei Bewegungsfreiheit oder individuelle Freizeit
zu altersgerechtem Spiel, und genoss keinerlei Schutz gegenüber von
Lehrern, Erziehern und anderen Kindern ausgeübter Gewalt.
Soweit das Oberlandesgericht meint, bei diesen Unterbringungsbedingungen
handele es sich lediglich um altersgerechte Freiheitsbeschränkungen, die
nicht über das hinausgingen, was Kinder an üblichen
Freiheitsbeschränkungen zu dieser Zeit erfahren hätten, trifft das
offensichtlich nicht zu. Kinder in diesem Alter erfahren üblicherweise
keine behördlich veranlasste Trennung von ihren Eltern. Auch mussten bei
ihren Eltern lebende Kinder in den Jahren 1961 bis 1966 in der Regel
nicht unter den von dem Beschwerdeführer geschilderten Umständen leben.
Mit der Begründung des Oberlandesgerichts verbleibt dem strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetz für in Kinderheimen unter haftähnlichen
Bedingungen untergebrachte Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren
(gar) kein Anwendungsbereich. Ihnen wird eine Rehabilitierung für ein
behördlich aus Gründen der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden
Gründen angeordnetes Leben unter haftähnlichen Bedingungen im Gegensatz
zu Jugendlichen und Erwachsenen grundsätzlich verwehrt, obwohl ein
solches Leben geeignet ist, gegen den Willen der Eltern von diesen
getrennte sechs bis elfjährige Kinder besonders hart zu treffen. Das
führt zu einer krassen Missdeutung des § 2 StrRehaG (in der bis zum 8.
Dezember 2010 geltenden Fassung), durch die das gesetzgeberische
Anliegen grundlegend verfehlt wird.
2. Soweit das Oberlandesgericht annimmt, eine etwaige
Freiheitsentziehung sei jedenfalls nicht mit wesentlichen Grundsätzen
einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar, verstößt der
Beschluss gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 des
Grundgesetzes.
a) § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung
des Sachverhalts von Amts wegen. Das erschien dem Gesetzgeber unter
anderem im Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des Gerichts
gegenüber den Antragstellern erforderlich. Das Gericht muss Hinweisen
auf eine mögliche politische Verfolgung oder sonstige sachfremde Gründe
für die Heimeinweisung von Amts wegen unter Ausnutzung aller ihm im
Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen. Es hat
sämtliche Erkenntnisquellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu
führen können, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen.
b) Das Oberlandesgericht hat seine Aufgabe zur Gewährung effektiven
Rechtsschutzes verfehlt, indem es der ihm obliegenden
Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen ist. Erheblich für
die Rehabilitierungsentscheidung war hier die Frage, aus welchen Gründen
es zu der ersten Heimeinweisung des Beschwerdeführers in den Jahren 1961
oder 1962 gekommen ist. Das Oberlandesgericht hat den Grund der
Einweisung des Beschwerdeführers schon wegen der nicht mehr auffindbaren
Unterlagen der Jugendhilfe als nicht aufklärbar angesehen. Damit hat es
dem Beschwerdeführer die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung
erheblicher Tatsachen verweigert.
Eine Gesamtschau des Vorbringens des Beschwerdeführers lässt es nicht
von vornherein ausgeschlossen erscheinen, dass die Heimeinweisung mit
dem Ziel erfolgt ist, seine Mutter unter Kontrolle zu halten. Einen
möglichen Anhalt dafür gab der Hinweis des Beschwerdeführers auf ein
illegales Verlassen der DDR durch den Bruder der Mutter. Weitere
Aufklärung dieses Umstandes durch das Oberlandesgericht hätte dem
Beschwerdeführer Anlass gegeben - wie nunmehr im
Verfassungsbeschwerdeverfahren - nachzutragen, dass (und wann) ein
zweiter Bruder der Mutter nach der Schließung der Berliner Mauer einen
Grenzdurchbruch habe erzwingen wollen und deshalb zu mehreren Jahren
Haft verurteilt worden sei. Zudem drängte es sich förmlich auf, dass die
Gründe für die Heimeinweisung, die näheren Umstände und das dabei
beachtete Verfahren durch die Mutter oder andere Familienmitglieder des
Beschwerdeführers, die die maßgebliche Zeit als Erwachsene erlebt haben,
näher geschildert werden können. Auch weiteren Ermittlungsanhalten, die
sich aus den Akten ergeben, ist das Oberlandesgericht nicht
nachgegangen.
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