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Bundesverfassungsgericht - Pressestelle
Pressemitteilung Nr. 97/2014 vom 31. Oktober 2014
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Prozessunterlagen müssen nur dann nicht in Blindenschrift zugänglich gemacht werden, wenn die Vermittlung durch den Rechtsanwalt gleichwertig ist
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Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats
des Bundesverfassungsgerichts über den Anspruch einer sehbehinderten
Person entschieden, die Prozessunterlagen eines Zivilrechtsstreits in
Blindenschrift zu erhalten. Aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3
Abs. 3 Satz 2 GG folgt der Auftrag, Menschen mit Behinderung so zu
stellen, dass ihnen gleichberechtigte Teilhabe wie Menschen ohne
Behinderung ermöglicht wird. Eine anwaltlich vertretene Person kann bei
übersichtlichem Streitstoff grundsätzlich auf die Kenntnisvermittlung
durch ihren Rechtsanwalt verwiesen werden. Die Fürsorgepflicht des
Gerichts erfordert es aber, die Prozessunterlagen gleichwohl in
Blindenschrift zugänglich zu machen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen,
dass die Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht gleichwertig mit der
unmittelbaren Kenntnis ist.
Sachverhalt und Verfahrensgang: Der Beschwerdeführer ist sehbehindert
und beantragte in einem zivilgerichtlichen Berufungsverfahren, die
Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zu erhalten. Das Landgericht
wies den Antrag zurück. Die zugelassene Rechtsbeschwerde blieb vor dem
Bundesgerichtshof ohne Erfolg.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich
nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich
gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen,
wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu
derjenigen nichtbehinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen
verschlechtert wird. Gesetzgeber und Rechtsprechung sind daher
gefordert, bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der
spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu
tragen, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer Partei ohne Behinderung
gleichberechtigt ist.
2. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen im Ergebnis
gerecht. Die Verfassungsbeschwerde wird daher nicht zur Entscheidung
angenommen.
a) Es ist zumindest dann mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, eine
sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine
Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff
übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine
Vermittlung dennoch nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der
unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Mit § 191a Abs. 1
Gerichtsverfassungsgesetz in der hier maßgeblichen Fassung bis 30. Juni
2014 und mit § 4 Abs. 1 der Zugänglichmachungsverordnung steht eine
solche Beschränkung des Anspruchs im Einklang.
Der rechtliche Ausgangspunkt des Bundesgerichtshofs, wonach bei einer
anwaltlichen Vertretung der berechtigten Person ein Anspruch auf
Zugänglichmachung ausgeschlossen sein kann, ist mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG vereinbar. Eine gleichberechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht
zwangsläufig voraus, dass der sehbehinderten Partei die
Prozessunterlagen in Blindenschrift vorliegen müssen. Ist der
Streitstoff übersichtlich und die Partei anwaltlich vertreten, so ist
grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass ihr der Prozessgegenstand
ohne Informationsverlust und ohne eine Beschränkung ihrer
Teilhabemöglichkeit von ihrem Rechtsanwalt vermittelt wird, zumal ihre
Unterrichtung zu seinen Pflichten gehört.
Die aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgende Verantwortung der Gerichte für
die gleichberechtigte Teilhabemöglichkeit einer Person mit Behinderung
endet - über die Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinaus - aber nicht
damit, dass sie durch einen Rechtsanwalt vertreten wird. Einem Verlangen
auf Zugänglichmachung des Prozessstoffs ist daher weitergehend auch dann
zu entsprechen, wenn dem Gericht Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die
Vermittlung trotz der Beschränktheit des Streitstoffs nicht in einer Art
und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig
ist. Damit ist zugleich der Möglichkeit einer sehbehinderten Person zur
Überwachung ihres Prozessbevollmächtigten in angemessener Weise Rechnung
getragen. Kommt dieser seiner Pflicht zur Kenntnisverschaffung nicht in
ausreichender Weise nach, kann sie dies dem Gericht gegenüber vortragen
und (erneut) die Zugänglichmachung der Prozessunterlagen verlangen; bei
entsprechenden Anhaltspunkten muss das Gericht im Rahmen seiner
Fürsorgepflicht dies von selbst veranlassen.
b) Die Entscheidung, ob von einer unmittelbaren Zugänglichmachung der
Prozessunterlagen abgesehen werden kann, obliegt grundsätzlich den
Fachgerichten und ist einer nur eingeschränkten Kontrolle durch das
Verfassungsgericht zugänglich. Im Streitfall begegnet sie keinen
Bedenken. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Streitstoff
so übersichtlich, dass er dem Beschwerdeführer durch seinen Rechtsanwalt
gut vermittelbar war. Wenn Landgericht und Bundesgerichtshof daher davon
ausgegangen sind, dass eine Zugänglichmachung der Prozessunterlagen auch
in einer für den Beschwerdeführer unmittelbar wahrnehmbaren Form nicht
erforderlich war, ist dies nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für eine
gleichwohl nur unzureichende Kenntnisvermittlung durch seinen
Prozessbevollmächtigten sind nicht ersichtlich und werden von dem
Beschwerdeführer auch nicht dargelegt. Sein allgemeiner Hinweis, dass er
nicht die gleiche Möglichkeit gehabt habe, die Tätigkeit seines
Bevollmächtigten zu überwachen, genügt insoweit nicht.
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