Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Schiffsarzt des
Bundeswehr-Segelschulschiffs „Gorch Fock“ nach dem Tod einer
Offiziersanwärterin im September 2008 verstößt nicht gegen das
Grundgesetz. Dies hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss
entschieden und eine Verfassungsbeschwerde der Eltern nicht zur
Entscheidung angenommen. Aufgrund der staatlichen Schutzpflicht für das
Leben der zu Tode gekommenen Offiziersanwärterin steht den Eltern im
konkreten Fall ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf sorgfältige und
effektive Ermittlungen zu. Die diesbezügliche Entscheidung des
Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts genügt jedoch den sich
hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführer sind die Eltern einer Offiziersanwärterin, die in
der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008 auf dem Segelschulschiff
„Gorch Fock“ der Bundeswehr zu Tode gekommen ist. Sie wenden sich gegen
die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Schiffsarzt wegen
fahrlässiger Tötung. Mit Verfügung vom 17. Oktober 2011 sah die
Staatsanwaltschaft Kiel mangels Anfangsverdachts von der Einleitung
eines Ermittlungsverfahrens ab (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 2 der
Strafprozessordnung). Die hiergegen erhobene Beschwerde wies der
Generalstaatsanwalt des Landes Schleswig-Holstein am 8. März 2012 als
unbegründet zurück. Einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung verwarf
das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht am 12. Juni 2012 als
unbegründet.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
1. Dem Grundgesetz lässt sich grundsätzlich kein Anspruch auf
Strafverfolgung Dritter entnehmen. Etwas anderes kann aufgrund der
staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung
mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG bei erheblichen Straftaten gegen das Leben,
die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die
Freiheit der Person gelten. Wo der Einzelne nicht in der Lage ist,
erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter selbst
abzuwehren und ein Verzicht auf Strafverfolgung zu einer Erschütterung
des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates sowie einem allgemeinen
Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann, besteht ein
Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung. Ein solcher Anspruch kann
ferner in Betracht kommen, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass
Amtsträger Straftaten bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben begangen
haben, oder wenn den Staat eine spezifische Obhutspflicht für die Opfer
aus Straftaten trifft, etwa weil sie sich im Maßregel- oder Strafvollzug
befinden. Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auf der
Grundlage von Art. 6 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen.
Die (verfassungsrechtliche) Verpflichtung zu effektiver Strafverfolgung
bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Ihr Ziel
muss es sein, eine wirksame Anwendung der Strafvorschriften
sicherzustellen. Dies bedeutet nicht, dass dieser Verpflichtung nur
durch Erhebung einer Anklage genügt werden kann. Vielfach wird es
ausreichend sein, wenn die Strafverfolgungsbehörden ihre Befugnisse nach
Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes nutzen, um den
Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern. Dies setzt
allerdings eine detaillierte und vollständige Dokumentation des
Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung
der Einstellungsentscheidungen.
2. Dies deckt sich weitgehend mit den Anforderungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention, für die der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 EMRK eine
Verpflichtung der Signatarstaaten entnommen hat, wirksame amtliche
Ermittlungen dann anzustellen, wenn ein Mensch durch Gewalteinwirkung zu
Tode gekommen ist, insbesondere dann, wenn auch staatliche Stellen an
dem Vorfall beteiligt waren.
3. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein
vom 12. Juni 2012 genügt diesen Anforderungen.
a) Die Beschwerdeführer verlangen die strafrechtliche Verfolgung einer
fahrlässigen Tötung durch den Schiffsarzt der „Gorch Fock“, den sie für
den Tod ihrer Tochter mitverantwortlich machen. Da ein Verzicht auf eine
effektive Verfolgung von Tötungsdelikten zu einer Erschütterung des
Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen kann und
bereits der Anschein vermieden werden muss, dass Todesfälle nur
unzureichend untersucht werden oder gegen Amtswalter des Staates weniger
effektiv ermittelt wird als gegen andere Beschuldigte, haben die Eltern
- vermittelt über Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2
in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG - grundsätzlich einen Anspruch auf
effektive Strafverfolgung. b) Diesem Anspruch trägt der Beschluss des
Oberlandesgerichts Schleswig-Holstein vom 12. Juni 2012 hinreichend
Rechnung.
Wie vom Oberlandesgericht dargelegt, belegen die
staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen, dass die Ermittlungen
gewissenhaft erfolgt sind und sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für
einen hinreichenden Tatverdacht ergeben haben. Die Annahme der
Generalstaatsanwaltschaft, mögliche Beschwerden der Verstorbenen seien
von dieser gegenüber dem Schiffsarzt nicht angezeigt worden, erscheint
nicht willkürlich und ist aus verfassungsrechtlicher Sicht daher nicht
zu beanstanden.
Soweit das Oberlandesgericht seinerseits dazu verpflichtet ist, die
Erfüllung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung sowie die
detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs und
die Begründung der Einstellungsentscheidungen zu überprüfen, wird dies
in dem angegriffenen Beschluss zwar nicht ausdrücklich thematisiert.
Indem das Oberlandesgericht den Sachverhalt jedoch inhaltlich würdigt
und sich insbesondere mit der Kausalität eines möglichen Fehlverhaltens
des Beschuldigten beschäftigt, knüpft es konkludent an die Ergebnisse
des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens an und billigt damit
auch dessen Ablauf.
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