Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Anordnung der Untersuchungshaft

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Anordnung der Untersuchungshaft

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts Nr. 17/2020

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats der Verfassungsbeschwerde eines Untersuchungsgefangenen gegen die Anordnung von Untersuchungshaft durch das Oberlandesgericht München stattgegeben und festgestellt, dass der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt ist. Der Beschwerdeführer soll Mitglied einer Gruppe gewesen sein, aus der heraus Gewalttaten auf dem Augsburger Weihnachtsmarkt begangen worden sein sollen. Zur Begründung hat die Kammer insbesondere angeführt, dass die Ausführungen des Gerichts zum dringenden Tatverdacht die erforderliche Begründungstiefe vermissen lassen, zumal eine schlüssige Darstellung einer konkreten Tat des Beschwerdeführers fehlt. Die Kammer hat die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, das unter Beachtung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts erneut darüber zu entscheiden haben wird, ob der Beschwerdeführer weiter in Untersuchungshaft bleibt.

Sachverhalt:

  1. Die Staatsanwaltschaft Augsburg führt gegen den 17-jährigen Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Augsburg Haftbefehle gegen den Beschwerdeführer und sechs weitere Beschuldigte. Das Amtsgericht hält den Beschwerdeführer für dringend verdächtig, am 6. Dezember 2019 als Teil einer Gruppe von sieben Personen in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden beiden Geschädigten getroffen zu sein. Die Beschuldigten hätten sich gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel entwickelt habe, hätten sie einen der Geschädigten umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, ihn entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen. Dies habe jedem ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die anderen angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen. Während der Geschädigte auf einen vor ihm stehenden, ihn bedrängenden Beschuldigten konzentriert gewesen sei und diesen von sich gestoßen habe, habe ihm ein seitlich von ihm stehender Mitbeschuldigter – tödliche Verletzungen billigend in Kauf nehmend – einen gezielten und derart wuchtigen Schlag mit der Faust gegen die linke Gesichtshälfte versetzt, dass der Kopf in solch hoher Geschwindigkeit nach rechts geschnellt sei, dass dessen Hirngrundschlagader eingerissen sei. Hierbei sei es zu einer schlagartigen massiven Blutansammlung im Gehirn des Geschädigten gekommen, weshalb dieser – wie alle Beschuldigten billigend in Kauf genommen hätten – augenblicklich verstorben sei. Der wenige Meter entfernt stehende zweite Geschädigte sei, als er dies gesehen habe, herbeigeeilt, um zu helfen. Daraufhin hätten alle sieben Beschuldigten entschieden, nunmehr ihn zu attackieren. Sie hätten ihm in der Folge zahlreiche Schläge gegen den Gesichtsbereich und diverse Schläge und Tritte gegen den Körper versetzt. Alle hätten dabei die Handlungen der anderen gebilligt. Der Geschädigte habe einen Jochbeinbruch, eine Platzwunde am linken Auge, eine Prellung sowie starke Schmerzen erlitten und einer stationären Behandlung bedurft. Das Gericht bewertete das Verhalten des Beschwerdeführers als Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung und stützte den dringenden Tatverdacht vor allem auf Erkenntnisse aus Videoaufzeichnungen.
  2. Auf die Haftbeschwerde des Beschwerdeführers hob das Landgericht Augsburg am 23. Dezember 2019 den Haftbefehl auf. Es verneinte einen dringenden Tatverdacht. Ein doppelter Gehilfenvorsatz des Beschwerdeführers zu einem Totschlag oder einer Köperverletzung mit Todesfolge liege nicht vor. Bereits eine Beihilfehandlung sei fraglich, da der Beschwerdeführer vom Geschädigten weggestoßen worden und gerade zum Stehen gekommen sei, als der tödliche Schlag des Mitbeschuldigten erfolgt sei. Der Beschwerdeführer sei demnach zu diesem Zeitpunkt zwar zugegen gewesen, von einer aktiven Handlung könne jedoch keine Rede sein. Ob die bloße Präsenz eine objektive Beihilfehandlung darstelle, könne dahingestellt bleiben, da jedenfalls kein dringender Tatverdacht hinsichtlich der subjektiven Tatseite bestehe. Der spontane Schlag des Beschuldigten sei sofort abgeschlossen gewesen, sodass die weiteren Beschuldigten keine Verhaltensweisen hätten zeigen können, die Rückschlüsse auf eine subjektive Tatseite ermöglicht hätten. Die Zugehörigkeit der Beschuldigten zu einer gewaltbereiten Gruppe „Oberhausen 54“ sei nicht durch belastbare Fakten belegt. Auch während der Auseinandersetzung mit dem zweiten Geschädigten habe sich der Beschwerdeführer zunächst in gewisser Distanz befunden und sich dann abgewandt, sodass auch insoweit kein dringender Tatverdacht für ein strafbares Verhalten des Beschwerdeführers bestehe.
  3. Auf die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht am 27. Dezember 2019 die – insgesamt sechs – stattgebenden Beschlüsse des Landgerichts auf und ordnete wieder die Untersuchungshaft an. Es bestehe hinsichtlich aller sechs Beschuldigter der dringende Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung. Soweit das Landgericht den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten zerlege und auf dieser Grundlage einen dringenden Tatverdacht der Beihilfe zum Totschlag verneine, berücksichtige es in prozessualer Hinsicht nicht ausreichend den vorläufigen Charakter der Prüfung des dringenden Tatverdachts und in tatsächlicher Hinsicht nicht hinlänglich das besondere gruppendynamische Gepräge des Tatgeschehens. Sowohl aus den Zeugenaussagen als auch aus den Videoaufzeichnungen erschließe sich mit ausreichender Deutlichkeit, dass die Beschuldigten unmittelbar vor der Tat im öffentlichen Raum in einer provozierenden und bedrohlich wirkenden Weise als Gruppe aufgetreten seien. Dieses gruppendynamische Verhalten setze sich im eigentlichen Tat- und Nachtatgeschehen fort, indem die Beschuldigten das später getötete Opfer zunächst in ihre Mitte nähmen und bedrängten, sich nach dem vom Mitbeschuldigten geführten Faustschlag gemeinsam von dem gestürzten Opfer entfernten und Menschen, die dem am Boden liegenden schwer verletzten Geschädigten zur Hilfe eilen wollten, abdrängten, den zweiten Geschädigten angriffen und sich gemeinsam vom Tatort entfernten. Bei einer Gesamtbetrachtung werde das vom Landgericht vorgenommene Zerlegen des Geschehens in zahlreiche Einzelakte individueller Verdächtiger dem Tatbild nicht gerecht. Die von den Beschuldigten ausgehende Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit, die sich in den verfahrensgegenständlichen Straftaten realisiert habe, könne nicht allein durch eine isolierte Betrachtung und Würdigung individueller Handlungen erfasst werden, sondern bedürfe außerdem einer sorgfältigen Berücksichtigung der Besonderheiten des Auftretens als Gruppe.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG.

  1. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit.

Bei der Anordnung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Dabei kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zu. Vor einer Verurteilung ist der Eingriff in die Freiheit eines Beschuldigten nur hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen dringenden, auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders als durch Untersuchungshaft gesichert werden kann. Der erforderliche dringende Tatverdacht liegt deshalb nur vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat.

Die Annahme eines dringenden Tatverdachts sowie das Vorliegen von Haftgründen betreffen die tatsächliche Würdigung des Sachverhalts, die vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht auf ihre Richtigkeit nachgeprüft wird. Die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall ist Sache der dafür zuständigen Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet nur die Verletzung von Verfassungsrecht. Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts ist erst dann gerechtfertigt, wenn die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts mit Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts nicht zu vereinbaren ist oder sich als objektiv willkürlich erweist. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG ist der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht.

  1. Diesen Vorgaben genügt der Beschluss des Oberlandesgerichts München nicht. Sowohl den Ausführungen zum dringenden Tatverdacht als auch zu den Haftgründen fehlt es jedenfalls an der erforderlichen Begründungstiefe.
  2. a) Ungeachtet der Frage, ob das Oberlandesgericht einen verfassungsrechtlich vertretbaren Maßstab an das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts angelegt hat, lässt es eine schlüssige Darstellung einer konkreten Tat des Beschwerdeführers vermissen. Wie das Oberlandesgericht im Ansatz zutreffend ausführt, ist die physische Präsenz an einem Tatort für sich genommen nicht strafbar. Aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts geht demgegenüber nicht hervor, woraus sich ein konkreter Tatbeitrag oder zumindest ein Vorsatz des Beschwerdeführers bezüglich des sofort tödlichen Schlags gegen den Kopf des Geschädigten ergeben sollte. Das Oberlandesgericht differenziert nicht zwischen den einzelnen Beschuldigten und den beiden ihnen vorgeworfenen Taten. Wenn es im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ sowohl eine gleichwertige Beteiligung der sechs Beschuldigten an dem von dem Haupttäter ausgeführten Schlag als auch eine von allen Beschuldigten mittäterschaftlich begangene Körperverletzung annimmt, hätte es dies konkret anhand des Inhalts der
    Videoaufzeichnungen und der Zeugenaussagen begründen müssen. Es genügt insoweit nicht, wenn es seine Sachverhaltswürdigung pauschal – und daher nicht näher nachvollziehbar – damit begründet, dass sie sich mit „ausreichender Deutlichkeit“ aus den vorliegenden Beweismitteln ergebe. Auch die abstrakten Ausführungen des Oberlandesgerichts zur objektiven Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse enthalten keinerlei Feststellungen insbesondere zur subjektiven Tatseite, sondern lassen die hierfür wesentlichen Gesichtspunkte vielmehr ausdrücklich offen. Dass das Landgericht – wie das Oberlandesgericht kritisiert – den Sachverhalt in individuelle Handlungen der jeweiligen Beschuldigten „zerlegt“ hat, erscheint daher nicht verfehlt, sondern vielmehr einfach- wie verfassungsrechtlich geboten. Eine strafrechtliche Verfolgung setzt die individuelle Vorwerfbarkeit eines sozialethischen Fehlverhaltens, also eine individuelle Schuld voraus. Das Oberlandesgericht wäre somit gehalten gewesen, anstelle einer rein gruppenbezogenen „Gesamtbetrachtung“ eine konkrete Tatbeteiligung jedes einzelnen Beschuldigten, insbesondere des Beschwerdeführers, darzulegen und zu begründen.

Besondere Anforderungen an die Begründungstiefe ergeben sich zudem aus dem Umstand, dass sich das Landgericht zu einer eingehenden Würdigung der vorliegenden Beweismittel und einer entsprechend detaillierten Schilderung der Tatabläufe in der Lage gesehen hat. Es hat anhand des bisherigen Ergebnisses der Ermittlungen herausgearbeitet, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des tödlichen Schlags vom Geschädigten geschubst wurde, nachdem er bereits einen Ausweichschritt nach hinten gegangen war, dass also von einer aktiven Handlung des Beschwerdeführers keine Rede sein kann. Zum Zeitpunkt der Verletzung des zweiten Geschädigten war er danach bereits im Weitergehen begriffen und hatte die Auseinandersetzung lediglich beobachtet. Das Landgericht konnte dementsprechend auch keine Verhaltensweisen erkennen, die Rückschlüsse auf eine subjektive Tatseite ermöglichen würden. Vor diesem Hintergrund hätte sich auch das Oberlandesgericht zu einer eingehenden Würdigung der vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte veranlasst sehen müssen, um zu begründen, dass die Annahmen des Landgerichts unzutreffend sind.

  1. b) Überdies fehlt es dem Beschluss des Oberlandesgerichts an der hinreichend begründeten Darlegung eines Haftgrundes. Er weist jedenfalls keine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit naheliegenden Umständen auf, die einer Flucht- und Verdunkelungsgefahr entgegenstehen können.